»Ihr habt nie fair gekämpft!«
»Ihr auch nicht«, konterte Mike. »Schwärmer, M-8o...«
»Du verdammte schwarze Nigger-Drecksau!« schrie Henry und griff Mike wieder an.
Mike lehnte sich zurück, um dem ungeschickten Angriff auszuweichen, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Henry packte ihn am Arm. Mike stieß mit dem Brieföffner zu und spürte, daß dieser sich tief in Henrys Unterarm bohrte. Henry schrie auf, aber anstatt loszulassen, umklammerte er Mikes Arm nur noch fester. Die Haare fielen ihm wirr in die Augen, und aus seiner gebrochenen Nase floß Blut über die wulstigen Lippen.
Mike versuchte, ihn mit dem Fuß wegzustoßen. Henry holte in weitem Bogen mit dem Messer aus, und die sechs Zoll lange Klinge drang bis zum Heft in Mikes Oberschenkel, ganz mühelos, wie in einen Butterkuchen. Henry zog das bluttriefende Messer wieder heraus, und mit einem Schrei stieß Mike ihn zurück.
Er kam mühsam auf die Beine, etwas später als Henry, und konnte dessen nächstem Angriff nur noch knapp ausweichen. Er spürte, wie Blut in beängstigender Menge an seinem Bein herabfloß und seinen Hush-Puppy-Schuh füllte. Er muß meine Oberschenkelarterie getroffen haben. O Gott, er hat mich ganz schön erwischt. Überall Blut. Blut auf dem Fußboden. Die Schuhe sind auch im Eimer, Blut bekommt man von Wildleder nicht mehr ab...
Keuchend und schnaubend wie ein wütender Stier, griff Henry erneut an. Mike taumelte beiseite und stieß gleichzeitig mit dem Brieföffner zu, der durch Henrys fadenscheiniges Hemd drang und eine tiefe Schnittwunde quer über seinen Rippen verursachte. Henry stieß einen Schmerzensschrei aus und griff sich an die Rippen. Sein Hemd sog sich rasch mit Blut voll.
»Du mieser Nigger!« kreischte er. »Schau nur, was du gemacht hast!«
»Laß das Messer fallen, Henry!«
Hinter ihnen ertönte plötzlich ein Kichern. Henry drehte sich um... und dann schrie er entsetzt auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Auch Mike warf einen Blick zur Ausleihtheke hinüber. An einer dicken Sprungfeder, die wie ein Korkenzieher in den Hals gebohrt war, wippte Stans Kopf auf und ab. Das Gesicht war grellweiß geschminkt. Auf beiden Wangen waren rote Rougekreise, und anstelle von Augen füllten große orangefarbene Pompons die Höhlen. Dieses groteske Schachtelmännchen nickte am Ende der Feder mit dem Kopf wie eine jener riesigen Sonnenblumen, die neben dem Haus an der Neibolt Street emporgeragt hatten. Es öffnete den Mund, und eine quiekende, lachende Stimme begann zu kreischen: »Bring ihn um, Henry! Bring den Nigger um, bring den Feigling um, bring ihn um, bring ihn um, bringthnum!«
Mike begriff, daß er auf einen üblen Trick hereingefallen war; rasch wandte er sich wieder Henry zu, wobei er sich aber unwillkürlich fragte,
was für ein Gesicht Henry wohl am Ende jener Sprungfeder gesehen hatte. Das von Stan? Das von Victor Criss? Oder vielleicht das seines Vaters?
Mit einem schrillen Schrei stürzte sich Henry wieder auf Mike. Die Messerklinge in seiner Hand sauste auf und ab wie die Nadel einer Nähmaschine. »Uuuuuh, Nigger!« brüllte Henry. »Uuuuuh, Nigger! Uuuuuuh, Nigger!«
Mike wich etwas zurück, aber sein verletztes Bein knickte gleich darauf unter ihm weg, und er fiel wieder hin. Er hatte kaum noch ein Gefühl in diesem Bein. Es war kalt, und als er einen Blick darauf warf, sah er, daß seine cremefarbene Hose sich rot verfärbt hatte.
Henrys Klinge sauste dicht an seiner Nase vorbei.
Mike holte mit dem Brieföffner aus, als Henry gerade wieder auf ihn zustürmte. Henry rannte direkt in den Brieföffner hinein. Sofort floß warmes Blut über Mikes Hand, und als er sie zurückzog, hielt er nur noch den Griff des Brieföffners fest. Die Klinge steckte in Henrys Bauch.
»Uuuuuh, Nigger!« schrie Henry wieder und griff sich an die Wunde. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch. Er starrte ungläubig darauf. Der Kopf am Ende der quietschenden Schachtelmännchen-Feder kreischte und lachte. Mike, dem jetzt schwindlig und übel war, warf einen Blick darauf und sah den Kopf von Belch Huggins mit einer New-York-Yankees-Mütze auf den blutigen Haaren. Mike stöhnte laut auf, aber der Laut drang nur ganz verschwommen an seine Ohren. Er spürte, daß er in einer warmen Blutlache saß... in seinem eigenen Blut. Wenn ich mein Bein nicht bald abbinden kann, verblute ich.
»Uuuuuuh! Niiiiigger!« schrie Henry. Eine Hand auf den blutenden Bauch gepreßt, in der anderen noch immer das Messer, stolperte er auf die Büchereitür zu. Er torkelte dabei wie ein Betrunkener durch den Saal, warf einen Lehnstuhl um, fegte mit der Hand einen Stapel Zeitungen zu Boden. Dann stieß er die Tür auf und verschwand in der Dunkelheit.
Mike war einer Ohnmacht nahe. Er fummelte mit tauben Fingern an seinem Gürtel herum. Schließlich gelang es ihm, die Schnalle zu öffnen und ihn herauszuziehen. Er schlang ihn dicht unterhalb der Leiste um sein Bein und band es ab. Während er den Gürtel mit einer Hand festhielt, kroch er auf die Ausleihtheke zu. Dort stand das Telefon. Er wußte zwar nicht, wie er an den Apparat herankommen sollte, aber fürs erste konzentrierte er sich nur darauf, die Theke überhaupt zu erreichen.
Er kroch. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er streckte rasch seine Zunge heraus und biß kräftig zu. Der scharfe Schmerz half sofort. Die Welt nahm wieder deutliche Konturen an. Er bemerkte, daß er noch immer den abgebrochenen Griff des Brieföffners in der Hand hatte, und warf ihn weg. Und da war auch endlich die Ausleihtheke; hoch wie der Mount Everest sah sie aus.
Mike schob sein unverletztes Bein unter sich, griff mit der freien Hand nach der Platte der Theke und zog sich hoch. Sein Mund verzerrte sich vor Anstrengung und Schmerz zur Grimasse, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Schließlich stand er da wie ein Storch und nahm den Hörer vom Telefon. Auf der Seite klebte ein Zettel mit drei Notrufnummern: Feuerwehr, Polizei und Krankenhaus. Mit einem zitternden Finger, der mindestens zehn Meilen entfernt zu sein schien, wählte Mike die Nummer des Krankenhauses: 947-3711. Er schloß die Augen, als er den Signalton hörte... und dann riß er sie weit auf, denn am anderen Ende der Leitung hörte er die Stimme von Pennywise, dem Clown.
»Hallo!« rief Pennywise, und dann lachte er schrill in Mikes Ohr. »Was sagst du nun, Nigger? Wie geht's dir? Ich glaube, du bist ein toter Mann, meinst du nicht auch? Ich glaube, Henry hat dich erledigt! Möchtest du einen Luftballon, Mikey? Möchtest du einen Luftballon haben? Wie geht's dir? Hallo! Hallo!«
Mike blickte zur Großvateruhr empor, zur Mueller-Uhr, wie sie nach dem Spender Horst Mueller genannt wurde; ohne jede Überraschung registrierte er, daß das Zifferblatt sich in das Gesicht seines Vaters verwandelt hatte - ein graues, vom Krebs gezeichnetes, ausgemergeltes Gesicht. Die Augen waren so verdreht, daß man nur das Weiße sehen konnte, und dadurch entstand fast der Effekt einer Totenmaske. Plötzlich streckte sein Vater die Zunge heraus, und die Uhr begann zu schlagen.
Mikes Hand rutschte von der Kante der Ausleihtheke ab. Einen Moment lang schwankte er auf einem Bein, dann fiel er wieder hin. Der Hörer baumelte am Ende der Schnur vor seiner Nase hin und her. Es fiel ihm jetzt immer schwerer, den Gürtel festzuhalten.
»Hallo, du da!« rief Pennywise vergnügt aus dem Hörer. »Hallo, du da, wie geht's, wie steht's? Hallo, du da, wie geht's?«
»Falls dort jemand ist«, krächzte Mike, »so helfen Sie mir bitte. Ich heiße Michael Hanion, und ich bin in der Stadtbücherei von Derry. Ich verblute. Falls dort jemand ist - ich kann Sie nicht hören. Man erlaubt mir nicht, Sie zu hören. Bitte beeilen Sie sich, wenn Sie da sind. Ich glaube, ich sterbe.«
Er legte sich auf die Seite und zog seine Beine an, bis er dalag wie ein Embryo. Er schlang den Gürtel zweimal fest um seine rechte Hand und konzentrierte sich nur noch darauf, ihn festzuhalten, während ihm immer wieder schwarz vor Augen wurde.