»Mit euch allen? Ich habe mit euch allen geschlafen?«
Sie sah schockierte Überraschung auf Bills Gesicht, sah, daß ihm der Unterkiefer herunterklappte... sah sein plötzliches Begreifen. Aber trotz ihres eigenen Schocks erkannte sie, daß er nicht nur die Offenbarung nachvollzog, sondern selbst eine erlebte.
»Wir...«
»Bill? Was ist?«
»Auf diese W-W-Weise hast d-du uns rausgebracht«, sagte er, und nun funkelten seine Augen direkt furchterregend. »Beverly, verstehst du nicht? Auf diese W-W-Weise hast du uns rausgebracht! Wir alle... aber wir waren...« Plötzlich sah er verunsichert, ängstlich aus.
»Erinnerst du dich jetzt an den Rest?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »An keine Einzelheiten. Aber...« Er schaute sie an, und sie sah, daß er schreckliche Angst hatte. »W-Wir haben uns herausgewünscht. Und ich bin nicht s-sicher... Beverly, ich bin nicht sicher, daß Erwachsene das v-vollb-b-bringen können.«
Sie blickte ihn lange schweigend an, und dann setzte sie sich auf die Bettkante und zog sich ganz natürlich und selbstverständlich aus. Ihr Körper war schön und glatt; ihre Wirbelsäule zeichnete sich unter ihrer Haut schwach im Halbdunkel ab, als sie sich bückte, um ihre wadenlangen Nylonstrümpfe auszuziehen. Ihre Haare bildeten ein Knäuel über einer Schulter. Er dachte, daß er sie noch vor Tagesanbruch wieder begehren würde, und erneut überkam ihn jenes Schuldgefühl, nur gemildert durch den Trost, daß Audra einen Ozean entfernt war. Eine neue Münze in derMusicbox, dachte er. Dieses Lied heißt »Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.« Aber es tut trotzdem weh...
Beverly stand auf, schlug die Bettdecke zurück und legte sich dann wieder hin. »Komm, wir brauchen Schlaf. Wir haben ihn beide nötig.«
»O-Okay.« Denn das stimmte wirklich. Mehr als alles andere wollte er jetzt schlafen... aber nicht allein, nicht in dieser Nacht. Der Schock über seine letzte Offenbarung flaute ab... vielleicht viel zu schnell, aber er war so müde, so ausgelaugt. Trotz seiner Schuldgefühle spürte er, daß das Bett ein sicherer Ort war. Er würde ein Weilchen hier liegen, in ihren Armen schlafen können. Er hatte ihre Wärme, ihre Freundschaft sehr nötig.
Er zog Socken und Hemd aus und legte sich zu ihr. Sie schmiegte sich an ihn; ihre Brüste waren warm, ihre langen Beine kühl. Bill umarmte sie und wurde sich der Unterschiede bewußt - ihr Körper war länger als Audras, und ihre Brüste und Hüften waren voller. Aber es war ein sehr willkommener Körper.
Es hätte Ben sein sollen, dachte er schläfrig. Ich glaube, so war es eigentlich vorherbestimmt ... warum war es nicht Ben? - Weil es damals du warst, und weil du es auch jetzt wieder bist, weiter nichts. Und vielleicht bin ich es jetzt, weil Ben dazu ausersehen ist, die Dame später heimzuführen.
Beverly kuschelte sich an ihn, nicht aus sexuellen Motiven (obwohl sie glücklich war, daß sein Glied sich an ihrem Bein wieder versteifte, wenngleich er schon am Einschlafen war), sondern nur, um seine Wärme zu spüren. Auch sie selbst schlief schon halb. Ihr Glück hier mit ihm, nach all diesen Jahren, war eine Realität. Sie wußte es, weil dieses Glück einen bitteren Beigeschmack hatte. Sie hatten diese Nacht für sich und vielleicht noch den nächsten Morgen. Das war alles. Dann würden sie wie schon einmal in die Abwasserkanäle hinabsteigen und dem Monster gegenübertreten. Der Kreis würde sich schließen, und ihrer aller gegenwärtiges Leben würde sich mit ihrer Kindheit vermischen; sie würden zu einer Art Lebewesen auf einer aberwitzigen Möbiusschen Fläche werden.
Entweder das - oder aber sie würden dort unten sterben.
Sie drehte sich um. Er schob einen Arm zwischen ihre Seite und ihren Arm und umfaßte zärtlich eine ihrer Brüste. Bei ihm brauchte sie nicht wach zu liegen und sich zu fragen, ob seine Hand plötzlich unerwartet schmerzhaft zupressen würde.
Ihre Gedanken verschwammen, und sie glitt in den Schlaf. Wie immer, sah sie dabei leuchtende wilde Blumen - Unmengen wilder Blumen, die unter einem blauen Himmel wogten. Dann verblaßten sie, und sie glaubte zu fallen - als Kind war sie von diesem Gefühl manchmal schreiend und schweißgebadet aufgewacht. In ihren Psychologielehrbüchern im College hatte sie gelesen, daß solche Kinderträume vom Fallen sehr verbreitet waren.
Aber diesmal wachte sie nicht erschrocken auf; sie spürte das warme, tröstliche Gewicht seines Arms, seine Hand auf ihrer Brust. Wenn sie fiel, so fiel sie diesmal wenigstens nicht allein.
Dann kam es ihr so vor, als renne sie: Dieser Traum rollte rasch ab, und sie rannte hinterher, versuchte, den Schlaf, die Stille, vielleicht auch einfach die Zeit einzuholen. Die Zeit verging so schnell. Die Jahre flogen nur so dahin, und wenn man sich umdrehte und der eigenen Kindheit nachrannte, mußte man wirklich Riesenschritte machen und das letzte aus sich herausholen. Zweiundzwanzig - in jenem Lebensjahr hatte sie sich in einen Footballspieler namens Greg Mallory verliebt, von dem sie dann nach einer Party vergewaltigt worden war (schneller, schneller). Sechzehn - sie hatte sich mit zwei Freundinnen auf dem Bluebird Hill Overlook in Portland betrunken. Vierzehn... zwölf... (schneller, schneller, schneller)...
Sie rannte in den Schlaf, ließ ihr zwölftes Lebensjahr hinter sich, rannte durch die Gedächtnissperre hindurch, die Es für sie alle errichtet hatte (diese Sperre fühlte sich im Traum in ihren Lungen wie kalter Nebel an), rannte in ihr elftes Jahr hinein, rannte und war wieder zehn Jahre alt, rannte und
6. Die Barrens, 12.40 Uhr
blickte immer wieder gehetzt zurück, ob ihre Verfolger irgendwo zu sehen waren, während sie die Böschung hinablief, hinabrutschte. Nein. Noch nicht. Sie hatte es Henry >ordentlich gegeben<, wie ihr Vater manchmal sagte... aber beim bloßen Gedanken an ihren Vater fing sie sofort wieder am ganzen Leibe zu zittern an.
Sie warf einen flüchtigen Blick unter die baufällige Brücke, weil sie hoffte, daß Silver dort liegen würde, aber das Fahrrad war nicht da. Hier unten versteckten sie jetzt auch ihre Spielzeuggewehre, um sie nicht jedesmal mit nach Hause nehmen zu müssen. Sie schaute wieder zurück... und da waren sie - Belch und Victor stützten Henry von beiden Seiten; sie standen am Rand der Böschung wie Indianer-Wachposten in einem Randolph-Scott-Film. Henry war schrecklich bleich. Er deutete auf sie, und Victor und Belch begannen ihm den Steilabhang hinabzuhelfen. Kieselsteine und Erde rollten unter ihren Absätzen weg.
Wie hypnotisiert betrachtete Beverly sie einen Moment lang. Doch gleich darauf drehte sie sich um und durchquerte den kleinen Bach, der unter der Brücke dahinfloß. Wasser spritzte unter ihren Segeltuchschuhen hervor. Dann rannte sie den Pfad hinab; ihre Beinmuskeln zitterten vor Überanstrengung, sie hatte Seitenstechen und rang nach Luft. Das Klubhaus... Wenn sie es erreichen konnte, würde sie vielleicht in Sicherheit sein. Das war jetzt ihre einzige Hoffnung.
Zweige peitschten ihr gegen die Wangen; einer traf genau ihr Auge, das sofort zu tränen begann. Sie schwenkte nach rechts ab, bahnte sich mühsam einen Weg durch dichtes Unterholz und stürzte auf die Lichtung hinaus. Die getarnte Falltür und das schmale Fenster waren geöffnet. Ben Hanscom tauchte aus dem unterirdischen Klubhaus auf, um zu sehen, wer da so lärmend angerast kam. Er hatte eine Packung Junior Mints in der einen Hand und ein Archie-Comic-Heft in der anderen.
Er sah Bev angehetzt kommen, und ihm klappte buchstäblich der Unterkiefer herunter, was sie unter anderen Umständen vermutlich zum Lachen gebracht hätte. »Bev, was in aller Welt...«
Sie nahm sich nicht die Zeit zu antworten. Hinter sich - und nicht einmal allzuweit entfernt - hörte sie das Brechen von Zweigen, das Rascheln von Blättern und leises Fluchen. Henry schien sich allmählich wieder zu erholen und schneller voranzukommen. Deshalb rannte sie einfach auf die Falltür zu; ihre wirren Haare, in denen Blätter hingen und die außerdem auch etwas Ölschmiere abbekommen hatten, als sie unter dem Lastwagen durchgekrochen war, flatterten wild.