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Henry setzte sich mühsam auf und stöhnte über die rasenden Schmerzen in seinen Eingeweiden.

Victor und Belch, die an jenem Tag vor 27 Jahren den Abend nicht mehr erleben sollten, hatten ihn auf dem Weg in die Barrens gestützt. Trotz der Schmerzen in seinem Unterleib hatte er versucht, so schnell wie möglich voranzukommen. Er hatte diese Sache endlich zu Ende bringen wollen. Sie waren dem Pfad bis zur Lichtung gefolgt, von der fünf oder sechs andere Pfade abzweigten wie die Fäden eines Spinnennetzes. Ja, dort unten hatten ohne jeden Zweifel Kinder gespielt. Schokoladenpapier hatte herumgelegen, abgebrannte Zündhütchen und anderes Zeug. Auch einige Bretter und Sägespäne, so als sei hier etwas gebaut worden.

Er erinnerte sich, mitten auf der Lichtung gestanden und erfolglos nach dem kindischen Baumhaus dieser Arschlöcher Ausschau gehalten zu haben. Wenn er es entdeckt hätte, wäre er hinaufgeklettert und hätte dem Mädchen, das sich dort versteckt haben mußte, die Kehle durchgeschnitten.

Aber er hatte nirgendwo ein Baumhaus entdecken können, und Belch und Victor auch nicht. Die vertraute frustrierte Wut war in ihm aufgestiegen. Er hatte Belch als Wachposten auf der Lichtung zurückgelassen und war mit Victor zum Fluß gegangen. Aber auch dort war von dem kleinen Miststück keine Spur zu sehen gewesen. Er erinnerte sich genau daran: Er hatte sich gebückt und einen Stein aufgehoben und

8. Die Barrens, 12.55 Uhr

ihn wütend in den Fluß geschleudert. »Verdammt, wohin ist sie nur verschwunden?« fragte er und warf Victor einen bitterbösen Blick zu.

Victor schüttelte langsam den Kopf. »Weiß ich auch nicht«, sagte er. »Du blutest, Henry.«

Henry schaute an sich herunter und sah unter dem Hosenschlitz einen dunklen Fleck von der Größe einer Vierteldollarmünze. Die rasenden Schmerzen hatten nachgelassen, aber seine Unterhose kam ihm auf einmal viel zu eng vor, und er begriff, daß seine Eier anschwollen. Neue Wut stieg in ihm hoch. Das hat sie getan, dieses Miststück, dieses verdammte kleine Biest.

»Wo ist sie?« zischte er.

»Weiß nicht«, antwortete Victor wieder mit tonloser Stimme. Er wirkte wie hypnotisiert, schien nicht bei klarem Verstand zu sein. »Weggerannt, nehm ich an. Sie kann inzwischen schon drüben in Old Cape sein.«

»Das ist sie nicht!« widersprach Henry. »Sie versteckt sich. Sie haben hier irgendeinen Schlupfwinkel, und dort hat sie sich versteckt. Vielleicht ist es kein Baumhaus. Vielleicht ist es irgendwas anderes.«

»Was denn?«

»Ich... weiß... nicht!« brüllte Henry, und Victor wich erschrocken etwas zurück.

Henry stand im Kenduskeag; das kalte Wasser drang in seine Segeltuchschuhe ein. Seine Blicke blieben plötzlich auf einem Zylinder am Ufer haften, etwa 20 Fuß flußabwärts - einer Pumpstation.

Er stieg aus dem Wasser und ging darauf zu, erfüllt von Scheu und Ehrfurcht. Seine Haut schien sich zusammenzuziehen, seine Augen größer zu werden, so daß er immer mehr sehen konnte; die winzigen Härchen in seinen Ohren schienen sich aufzurichten und zu bewegen wie Seetang in einer Unterwasserströmung.

Ein stetiges tiefes Summen kam aus dem Betonzylinder, und etwas weiter hinten sah er ein Abflußrohr über den Kenduskeag hinausragen. Trübes, schmutziges Wasser floß aus dem Rohr in den Fluß.

Er beugte sich über den runden Eisendeckel des Zylinders.

»Henry?« rief Victor nervös. »Henry? Was machst du da?«

Henry beachtete ihn nicht. Er hielt ein Auge dicht an eines der runden Löcher im Deckel, sah aber nichts als Schwärze. Dann hielt er statt des Auges ein Ohr an das Loch.

»Warte...«

Die Stimme drang aus der Finsternis empor an sein Ohr, und Henry hatte das Gefühl, als sinke seine Körpertemperatur auf Null, als würden seine Venen und Arterien zu Eiszapfen gefrieren. Aber gleichzeitig verspürte er eine ihm fast unbekannte Emotion: eine irregeleitete Art von Liebe. Er riß die Augen weit auf. Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten clownartigen Grinsen. Es war die stimme vom Mond. Jetzt schien Es unten in der Pumpstation zu sein... unten in der Kanalisation.

»Warte... beobachte...«

Er wartete, aber es kam nichts mehr; außer dem einschläfernden Summen der Pumpe war nichts mehr zu hören. Er kehrte zu Victor zurück, der am Ufer stand und ihm nervös zusah. Henry ignorierte ihn und rief nach Belch, der kurz darauf auftauchte.

»Kommt«, sagte Henry. »Wir verstecken uns an einer Stelle, von wo aus wir die Lichtung gut im Auge behalten können.«

Sie schlichen ein Stück zurück und setzten sich dann hin. Henry versuchte seine blutige Unterhose von den Hoden zu lösen, gab es aber gleich wieder auf, weil es zu sehr schmerzte.

»Henry, was...«, setzte Belch zu einer Frage an.

»Psssst!«

Belch verstummte gehorsam. Henry hatte Zigaretten bei sich, aber er ließ sie in der Tasche. Er wollte nicht, daß das Luder den Rauch roch, wenn es irgendwo in der Nähe war. Er hätte den anderen alles erklären können, sah dazu jedoch keine Notwendigkeit. Die stimme hatte ihm nur zwei Worte zugeraunt, aber sie schienen alles zu erklären. Die Arschlöcher spielten hier unten. Die anderen würden bald auftauchen. Wozu sich nur mit dem rothaarigen Luder abgeben, wenn sie alle sieben verdammten Säue auf einmal schnappen konnten?

Sie warteten und beobachteten die Lichtung... wie die stimme ihm befohlen hatte. Belch und Victor schienen mit offenen Augen zu schlafen. Sie mußten nicht allzu lange warten, aber Henry hatte doch Zeit, über manches nachzudenken. Seine Hoden schmerzten zwar noch immer, aber das Messer in seiner linken vorderen Jeanstasche tröstete ihn darüber hinweg. Bald würde er Rache nehmen. O ja, die anderen würden bald wieder herkommen, um ihre kindischen Spiele fortzusetzen, und dann würde die Stunde der blutigen Abrechnung schlagen. Er würde sie alle umbringen, und dann würde sich jenes bedrückende Gefühl in Nichts auflösen - jenes Gefühl, daß seine Macht im Schwinden begriffen war, daß er eine größere Welt betreten hatte, die er nicht so beherrschen konnte wie den Spielplatz seiner Schule. Und am allerschlimmsten war jene bohrende Angst, daß in dieser weiteren Welt der Fettkloß und der Judenlümmel und die stotternde Mißgeburt irgendwie an Bedeutung gewinnen würden, während er selbst nur älter würde.

Er würde sie alle umbringen, und dann würden die Stimmen - sowohl jene in seinem Innern als auch jene, die vom Mond zu ihm sprachen - verstummen. Dann würde alles in bester Ordnung sein, in allerbester Ordnung. Dann würde er seine Rechnung beglichen haben, und alles folgende würde völlig bedeutungslos sein. Die stimme würde sich seiner annehmen, ihm helfen - das spürte er. Wenn man ihm half, so half Es einem ebenfalls. So war es in Derry schon immer gewesen.

Aber die Kinder mußten beseitigt werden - bald beseitigt werden - heute noch! Die stimme hatte es ihm befohlen.

Henry /og sein Messer aus der Tasche und betrachtete es; er drehte es hin und her und genoß das Funkeln des Stahls in der Sonne. Plötzlich packte Belch ihn am Arm und zischte: »Schau dir das nur mal an, Henry! Jesus, Maria und Joseph! Schau dir das nur mal an!«

Henry schaute hin... und begriff alles. Wie durch Zauberei hob sich ein quadratisches Stück der Lichtung und enthüllte einen langsam immer breiter werdenden dunklen Spalt. Im allerersten Moment durchfuhr ihn Entsetzen - er glaubte, dies könnte der Eigentümer der stimme sein... denn Es hauste bestimmt irgendwo unter der Stadt. Dann hörte er aber das Knirschen von Erde in unsichtbaren Scharnieren und begriff. Er hatte ihr Baumhaus nirgends entdecken können, weil es überhaupt kein Baumhaus gab.