»Mein Gott, wir sind direkt auf ihnen drauf gestanden!« knurrte Victor, und als Bens Kopf und Schultern aus dem quadratischen Loch in der Lichtung auftauchten, wollte er aufspringen. Henry packte ihn fest am Bein.
»Wollen wir sie uns denn nicht schnappen?« fragte Victor, während Ben aus der Grube herauskletterte.
»O doch, wir schnappen sie uns«, sagte Henry, ohne seine Augen von dem verhaßten Fettkloß zu wenden. Auch so ein verdammter Eier-Kicker. Ich werd' dir so in die Eier kicken, daß du sie gleich als Ohrringe tragen kannst, du fette kleine Drecksau. Wart nur ab! »Nur keine Bange.«
Der Fettkloß half jetzt der rothaarigen Hexe aus der Grube heraus. Sie schaute sich ängstlich um, und einen Moment lang glaubte Henry, daß sie ihn direkt ansah. Dann schweiften ihre Blicke weiter in die Runde. Die beiden Arschlöcher flüsterten miteinander, und dann verschwanden sie im dichten Unterholz.
»Kommt«, sagte Henry, als das Rascheln von Blättern kaum noch zu hören war. »Wir folgen ihnen. Aber seid leise und haltet Abstand. Ich will sie alle zusammen schnappen.«
Die drei überquerten die Lichtung wie Soldaten auf einer Patrouille - in geduckter Haltung, lautlos, wachsam. Belch blieb stehen und warf einen Blick ins Klubhaus. Er schüttelte staunend und bewundernd den Kopf. »Direkt über ihren Birnen bin ich gesessen«, murmelte er.
Henry schob ihn ungeduldig vorwärts.
Sie gingen auf dem Pfad, weil sie dort geräuschloser vorankamen. Etwa auf halbem Weg zur Kansas Street tauchten der Fettkloß und das Miststück plötzlich händchenhaltend nicht weit vor ihnen aus dem Gebüsch auf. Glücklicherweise kehrten sie Henry und seinen Freunden den Rücken zu und drehten sich nicht um. Henry, Victor und Belch erstarrten... und zogen sich dann rasch in den Schatten am Rand des Pfads zurück. Bald waren Ben und Beverly nur noch zwei helle Flecke, die ab und zu zwischen den Büschen auftauchten. Die drei Jungen setzten die Verfolgung fort... noch vorsichtiger als zuvor. Henry zog sein Messer wieder aus der Tasche und
9. Henry macht eine Autofahrt, 2.30 Uhr
drückte auf den Chromknopf im Griff. Die Klinge sprang heraus, und er betrachtete sie verträumt im Mondschein. Es gefiel ihm, wie sie das Licht reflektierte. Er hatte keine Ahnung, wie spät es jetzt wohl sein mochte; die Realität löste sich zeitweise auf.
Ein Geräusch drang in sein Bewußtsein, ein Geräusch, das immer lauter wurde. Ein Automotor. Das Auto näherte sich, und Henry umklammerte sein Messer und wartete, ob es vorbeifahren würde.
Nein. Das Auto blieb an der Bordsteinkante stehen, mit laufendem Motor. Mit einer Grimasse (sein Bauch war inzwischen hart wie ein Brett, und noch immer sickerte dickflüssiges Blut aus der Wunde) kniete er sich hin, schob einige Zweige der Hecke auseinander und spähte hindurch. Er sah Scheinwerfer und die Umrisse eines Wagens. Der Streifenwagen? Seine Hand ballte sich um den Messergriff zur Faust.
Ich habe dir eine Mitfahrgelegenheit verschafft, flüsterte die STIMME vom Mond.
»Wer ist es?« krächzte Henry. »Wer ist da draußen?«
Betrachte es einfach als Taxi, erwiderte die stimme. Schließlich müssen wir dich rasch ins Town House bringen. Es ist schon ziemlich spät.
»Wer ist es?« fragte Henry wieder.
Aber die stimme stieß nur noch ein dünnes Kichern aus und verstummte sodann. Jetzt waren nur noch die Heimchen und das Geräusch des laufenden Motors zu hören.
Er richtete sich schwerfällig auf und taumelte zur Auffahrt zurück. Von dort spähte er um die Ecke. Es war kein Streifenwagen; er hatte kein Blaulicht auf dem Dach, und auch die ganze Karosserie war anders. Die Karosserie war... war altmodisch.
Er glaubte wieder jenes Kichern zu hören, aber vielleicht war es auch nur der Wind. Er kroch unter der Kette hindurch und ging auf das Auto zu, das sich ein wenig von der schwarzweißen Schnappschußwelt aus hellem Mondlicht und undurchdringlicher Dunkelheit abhob. Er sah grauenhaft aus: Sein Hemd war schwarz vom Blut, das auch seine Jeans fast bis zu den Knien durchtränkt hatte. Sein Gesicht war leichenblaß.
Auf dem Gehweg blieb er kurz stehen und versuchte die plumpe schwarze Gestalt am Steuer zu identifizieren. Aber zuerst erkannte er das Auto - es war jenes Modell, von dem sein Vater immer behauptet hatte, er würde es eines Tages besitzen: ein Hudson Hörnet Baujahr 1957. Es war ein flaschengrünes Hollywoodcoupe, und Henry wußte (hatte es sein Vater ihm nicht oft genug erzählt?), daß der Motor unter der Haube ein V-8-32/ war, mit 255 PS, der in etwa neun Sekunden von Null auf 70 Meilen pro Stunde beschleunigen konnte. Ich werde dieses Auto kriegen, und wenn ich dann sterbe, können sie mich darin begraben, hatte Butch immer gesagt... nur hatte er das Auto natürlich nie bekommen und war auf Kosten des Sozialamtes bestattet worden.
Wenn er da drin sitzt, glaube ich nicht, daß ich das ertragen kann, dachte Henry, umklammerte sein Messer, stand schwankend da und starrte auf die dunkle Gestalt am Steuer.
Dann öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite, die Innenleuchte ging an, und der Fahrer drehte sich nach ihm. um. Es war Belch Huggins. Sein Gesicht war eine gelbliche, in Fetzen herabhängende Ruine. Ein Auge fehlte ihm, und durch ein Loch in der pergamentartigen Wange konnte man schwarze Zähne erkennen. Auf dem Kopf hatte er die New-York-Yan-kees-Baseballmütze, die er an jenem Tag getragen hatte. Der Mützenschirm war mit graugrünem Schimmel überzogen.
»Belch!« rief Henry, und dann stieß er unter äußerster Qual einen stöhnenden Schrei aus.
Belchs tote Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, wodurch sich in ihnen weißgraue, blutlose Risse zeigten. Er deutete'einladend auf die offene Tür.
Henry zögerte, und dann schlurfte er um die Kühlerhaube herum und berührte das V-förmige Emblem, wie damals als Kind, als sein Vater ihm dieses Automodell im Ausstellungsraum in Bangor gezeigt hatte. Als er die Beifahrerseite erreichte, wurde ihm schwarz vor Augen, und er mußte sich an der offenen Wagentür festhalten, um nicht zu stürzen. Er stand mit gesenktem Kopf da und rang keuchend nach Luft. Schließlich nahm die Welt wieder halbwegs klare Konturen an, und er schaffte es, um die Tür herumzugehen und sich auf den Sitz fallen zu lassen. Der rasende Schmerz in seinen Eingeweiden zwang ihn, den Kopf zurückzuwerfen und die Zähne so fest zusammenzubeißen, daß seine Halsmuskeln wie Stränge hervortragen. Wieder sickerte Blut in seine Hand; es fühlte sich an wie warmes Gelee. Schließlich ließ der Schmerz ein wenig nach.
Die Tür fiel von selbst zu. Die Innenleuchte schaltete sich aus. Henry sah, wie Bekhs halb vermoderte Hand den ersten Gang einlegte. Belchs weiße Knöchel schimmerten durch die Hautfetzen auf seinen Fingern.
Der Hudson bewegte sich langsam auf den Up-Mile Hill zu.
»Wie geht's dir, Belch?« hörte Henry sich fragen. Es war natürlich eine saudumme Frage; Belch konnte nicht hier sein, Tote konnten kein Auto lenken - aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Belch gab keine Antwort. Sein einziges tief eingesunkenes Auge starrte auf die Straße. Es verursachte Henry Übelkeit, durch das Loch in Belchs Wange seine schwarzen Zähne zu sehen. Er nahm undeutlich wahr, daß der gute alte Belch einen überreifen Geruch verströmte. Er stank, ehrlich gesagt, wie ein Korb verdorbener Tomaten.
Das Handschuhfach flog auf, und im Schein der kleinen Glühbirne im Inneren sah er eine halbvolle Flasche Cosgrove-Whisky. Er holte sie mit blutverkrusteter Hand heraus, öffnete sie und trank einen ordentlichen Schluck. Der Whisky rann ihm durch die Kehle wie kühle Seide und brannte in seinem Magen wie heiße Lava. Er schüttelte sich stöhnend... und danach fühlte er sich etwas besser, wieder etwas stärker mit der Welt verbunden.