»Bitte, Big Bill«, flüsterte er. »Bitte, sei da, Mann!«
Der Hörer wurde abgenommen, und Bills Stimme sagte, ganz uncharakteristisch mißtrauisch: »H-H-Hallo?«
»Bill!« rief Eddie, vor Erleichterung den Tränen nahe. »Bill, Gott sei Dank.«
»Eddie?« Bill Stimme war vorübergehend schwächer zu hören, weil er jemand anderem erklärte: »Es ist Eddie.« Dann fragte er: »W-W-Was ist 1-los, Eddie?«
»Es ist Henry Bowers«, stammelte Eddie. Er warf wieder einen Blick auf den Körper am Boden. Hatte er seine Lage verändert? Diesmal fiel es ihm
weniger leicht, sich selbst zu überzeugen, daß das nicht der Fall war. »Bill... er... er ist hergekommen... und ich habe ihn getötet. Er hatte ein Messer... Ich glaube...« Er senkte die Stimme. »Ich glaube, es war dasselbe Messer, das er an jenem Tag hatte. Als wir in die Abwasserkanäle runterstiegen. Erinnerst du dich daran?«
»Ja, ich erinnere m-mich«, sagte Bill grimmig. »Eddie, hör zu. Ich möchte, daß du
12. Die Barrens, 13.55 Uhr
nach h-h-hinten gehst und B-Ben sagst, er soll herk-k-kommen.«
»Okay, Bill«, sagte Eddie und begab sich sofort nach hinten. Sie näherten sich jetzt der Lichtung. Donner grollte drohend im wolkenverhangenen Himmel, und die Büsche seufzten und rauschten im Wind.
Ben kam zu Bill, als sie die Lichtung erreichten. Die Falltür zum Klubhaus war geöffnet, ein fantastisch anmutendes schwarzes Quadrat inmitten des Grüns. Das Plätschern des Flusses war sehr deutlich zu hören, und Bill überkam plötzlich eine absurde Gewißheit: daß er dieses Geräusch und diesen Platz zum letzten Mal in seiner Kindheit erlebte. Er holte tief Luft, sog den Geruch nach Erde, Bäumen und der Müllhalde ein, die vor sich hin rauchte wie ein eigensinniger Vulkan, der sich nicht entschließen kann zu erlöschen. Er sah eine Vogelschar von der Eisenbahnbrücke in Richtung Old Cape fliegen. Dann blickte er empor zu den bedrohlichen Wolkenmassen.
»Was ist?« fragte Ben ängstlich.
»W-W-Warum haben sie n-nicht versucht, uns zu sch-sch-schnappen?« fragte Bill. »Sie s-sind da. Ich kann sie sch-sch-spüren.«
»Ich auch«, sagte Ben. »Vielleicht sind sie so blöd, daß sie glauben, wir steigen runter ins Klubhaus. Dann säßen wir in der Falle.«
»V-V-V-Vielleicht«, sagte Bill, und plötzlich überkam ihn eine ohnmächtige Wut über sein Stottern, das es ihm unmöglich machte, schnell zu sprechen. Aber möglicherweise hätte er das, was ihn bewegte, ohnehin nicht in Worte fassen können - daß er glaubte, alles fast auch mit Henrys Augen sehen zu können, daß er das Gefühl hatte, Henry und er stünden sich jetzt sehr nahe, obwohl sie auf verschiedenen Seiten kämpften, obwohl sie Schachfiguren waren, die von entgegengesetzten Kräften bewegt wurden.
Henry erwartete von ihnen, daß sie sich dem Kampf stellten.
Es erwartete von ihnen, daß sie sich dem Kampf stellten.
Und ermordet wurden.
In seinem Kopf schien eine kalte Explosion weißen Lichts stattzufinden. Sie würden als Opfer des Mörders gelten, der Derry seit Georgies Tod heimsuchte - es würde heißen, alle sieben seien sie ihm zum Opfer gefallen. Vielleicht würde man ihre Leichen finden, vielleicht auch nicht. Alles hing davon ab, ob Es Henry beschützen würde, ihn beschützen konnte - ihn und in geringerem Ausmaß auch Belch und Victor. Ja. Nach außen hin, für die ganze übrigeStadt, werden wir Opfer des Mörders sein. Und das stimmt sogar, auf merkwürdige Art und Weise stimmt das tatsächlich, denn der Mörder ist Es, und Es kann jeden als SEIN Werkzeug benutzen... schwache Menschen, böse Menschen... vielleicht sogar Menschen, die einfach... na ja, einfach leer sind. Es will, daß wir sterben. Henry ist das Werkzeug, das diese Arbeit verrichten soll, damit Es nicht selbst in Erscheinung treten muß. Ich werde vermutlich als erster sterben - Beverly und Richie könnten die anderen vielleicht zusammenhalten oder auch Mike, aber Stan hat Angst, und Ben ebenso, obwohl ich glaube, daß er stärker ist als Stan. Und Eddie hat einen gebrochenen Arm. Warum habe ich sie nur hierher geführt? Mein Gott! Warum nur?
»Bill?« sagte Ben ängstlich, und die anderen scharten sich neben dem Klubhaus um sie. Es donnerte wieder, und die Büsche raschelten jetzt lauter. Das Bambus trommelte rasselnd im düsteren Sturmlicht.
»Bill...« begann Richie.
»Pssst!« rief Bill eindringlich, und alle schwiegen unbehaglich beim Anblick seiner gehetzten, blitzenden Augen.
Er starrte ins Unterholz, auf den gewundenen Pfad, der zur Kansas Street führte, und sein Geist erklomm plötzlich eine weitere Stufe, stieg gleichsam auf eine höhere Ebene. Sein Geist stotterte nicht; er wurde von einer verrückten Heiterkeit erfaßt, so als würden seine Gedanken von einem rasenden Strom der Intuition emporgehoben, so als flöge ihm alles nur so zu.
George an einem Ende, ich und meine Freunde am anderen. Und dann wird es aufhören.
(wieder)
wieder, ja, wieder, denn solche Dinge sind auch schon früher geschehen, und immer muß irgendein Opfer am Ende stehen, etwas Schreckliches muß sich ereignen, damit es aufhört, ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß es... und sie... sie...
»Sie 1-1-1-lassen es g-geschehen«, murmelte Bill, während er mit weit aufgerissenen Augen auf die raschelnden Büsche starrte. Jetzt war auch ein neuer Laut zu hören - eiskalte Regentropfen fielen auf die Barrens hernieder.
»Bill?« fragte Beverly flehend. Stan stand leichenblaß neben ihr, klein und schmal und adrett in seinem blauen Polohemd und seiner Baumwoll-hose. Mike befand sich auf Bevs anderer Seite und sah ihn intensiv an, so als lese er seine Gedanken.
Sie lassen es geschehen, das haben sie schon immer getan, und dann kommt alles zur Ruhe, das Leben geht weiter, Es... Es
(schläft)
ja, Es schläft... oder hält so eine Art Winterschlaf wie ein Bär... und dann fängt es wieder an, und sie wissen... die Leute wissen... sie wissen, daß es so sein muß, damit Es existieren kann.
»Ich h-h-h-h-h...«
O bitte Gott o bitte Gott im finstern Föhrenwald bitte Gott da wohnt ein wahrer Meister o Gott laß mich herausbringen was ich ihnen sagen muß ein wahrer Meister der ficht ganz fiachtlos kalt o Gott o Christus BITTE LASS ES MICH HERAUSBRINGEN!
»Ich h-h-habe euch h-h-h-hierhergeführt, w-weil es k-k-keinen s-siche-ren Ort g-gibt«, sagte Bill. Speichel flog durch die Luft; er wischte seine Lippen mit dem Handrücken ab.
»D-D-Derry ist Es. V-Versteht ihr m-mich?« Seine Augen schössen Blitze. »D-D-Derry ist E-E-E-Es! Wohin wir auch g-g-gehen mögen... w-wenn Es uns sch-sch-sch-schnappen will, w-wenn Es uns u-u-umbringt, werden sie n-n-nichts s-s-s-sehen, sie w-werden nichts h-hören, sie w-w-werden nichts w-wissenl« Er sah sie flehend an. »S-S-Seht ihr nicht, w-wie es ist? W-Wir k-k-k-können nur eins t-tun - versuchen zu v-v-vollen-den, w-was wir begonnen h-h-haben.«
»Diese Frau hat aber versucht, mir zu helfen«, sagte Beverly, doch vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild des Mannes auf, der von seinem Liegestuhl auf der Veranda aufgestanden war, hingesehen hatte, seine Zeitung zusammengefaltet hatte... und ins Haus gegangen war. Sie werden nichts sehen, nichts hören, nichts wissen. Und ihr eigener Vater
(zieh jetzt die Hose aus)
hatte die Absicht gehabt, sie umzubringen.
Bill dachte an das Mittagessen mit Mike; seine Mutter hatte sich wieder einmal in ihre Traumwelt zurückgezogen, las einen Roman von Henry James und schien die beiden Jungen überhaupt nicht wahrzunehmen, die sich Sandwiches machten und lachten. Richie dachte an Stans ordentliches, aber völlig leeres Haus. Stan war ein bißchen überrascht gewesen; seine Mutter war zur Mittagszeit fast immer zu Hause, oder aber sie hinterließ ihm auf einem Zettel eine Nachricht. Aber es war keine Nachricht dagewesen. Das Auto hatte nicht in der Garage gestanden, das war alles. »Vermutlich ist sie mit ihrer Freundin Debbie zum Einkaufen gefahren«, hatte Stan gesagt, die Stirn gerunzelt und angefangen, Sandwiches mit Eiersalat zu machen. Richie hatte die Sache ganz vergessen. Bis jetzt. Eddie dachte an seine Mutter, die zu Hause gewesen war, weil es in der Fabrik in Newport im Sommer weniger zu tun gab und sie deshalb nur an vier Tagen pro Woche arbeitete. Als er mit seinem Parcheesi-Brett unter dem Arm weggegangen war, hatte es keine ihrer üblichen Ermahnungen gegeben: Sei vorsichtig, Eddie, stell dich irgendwo unter, wenn es regnet, Eddie, spiel ja keine gefährlichen Spiele, Eddie. Sie hatte ihn nicht gefragt, ob er seinen Aspirator dabei hatte, sie hatte ihm nicht gesagt, um wieviel Uhr er zu Hause sein sollte, sie hatte ihn nicht vor »jenen groben Jungen, mit denen du spielst« gewarnt. Sie hatte sich einfach weiter im Fernsehen eine schnulzige Serie angesehen, so als wäre er überhaupt nicht vorhanden.