Durch das Rauschen des Regens hindurch konnte er nun auch andere Geräusche vernehmen: Rascheln von Blättern, Stimmengemurmel. Henry, Victor und Belch waren im Anmarsch.
Bill hielt sich am rauhen Rand des Zylinders fest und tastete mit den Füßen nach den Sprossen. Sie waren rund und schlüpfrig. Eddie hatte seinen Hals so fest umklammert, daß er kaum Luft bekam.
»Ich habe Angst, Bill«, wimmerte Eddie.
»Ich a-a-auch.«
Er hielt sich jetzt an der obersten Sprosse fest. Obwohl Eddie ihn fast erwürgte und plötzlich 40 Pfund schwerer als sonst zu sein schien, warf er noch einen Blick in die Runde, auf die Barrens, den Kenduskeag, auf die rasch dahinziehenden Wolken am Himmel. Eine innere Stimme - keine ängstliche, sondern eine sehr energische - hatte ihm gesagt, er solle sich alles gut einprägen für den Fall, daß er die Welt hier oben nie wiedersehen würde.
Dann begann er die Leiter hinabzusteigen, mit Eddie auf dem Rücken.
»Ich kann mich nicht mehr lange festhalten«, klagte Eddie.
»Brauchst d-du auch n-n-nicht«, tröstete ihn Bill. »Wir sind f-f-fast unten.«
Einer seiner Füße tauchte in kaltes Wasser ein. Er tastete nach der nächsten Sprosse, fand sie, und dann noch eine. Die Leiter endete, und er stand neben der dunklen Pumpe knietief im Wasser.
Er bückte sich, zuckte zusammen, als das kalte Wasser ihm in die Hose und über die Hoden floß, und ließ Eddie hinabgleiten. Er holte tief Luft, heilfroh, daß Eddies Arm ihm nicht mehr den Hals zuschnürte.
Er blickte hoch und sah etwa zehn Fuß über seinem Kopf einen kreisförmigen Himmelsausschnitt, der vom Zylinderrand eingerahmt wurde. Seine fünf Freunde beugten sich darüber und schauten zu ihm hinab. »K-K-Kommt runter!« schrie er. »Einer n-nach dem anderen! Sch-Sch-Schnell!«
Beverly schwang sich als erste gelenkig über den Rand des Zylinders und kletterte die Leiter hinab. Stan folgte, dann Ben. Mike und Richie standen noch im strömenden Regen und sahen aus wie nasse Wasserratten. Richie hörte, wie Henry, Victor und Belch sich ein Stück weiter links einen Weg durchs Gebüsch bahnten - leider nicht weit genug entfernt. Sie werden uns sehen, dachte er.
»Weißt du noch«, sagte er zu Mike, »an jenem Tag, als wir im Rauchloch die Vision hatten - da haben wir doch gesehen, wie Es vom Himmel herabkam, stimmt's?«
»Ja.«
»Es ist dort unten.«
»Ja.«
»Steigst du da runter?«
»Ja.«
»Dann nichts wie los«, sagte Richie. »Und wenn du unten angekommen bist, dann setz gefälligst dein strahlendes Lächeln auf, damit ich überhaupt sehen kann, wo du bist, du verdammte Schwarzhaut!«
»Piepe-piep, Richie«, lachte Mike und schwang sich über den Zylinderrand.
In diesem Moment brüllte Victor: »Henry! Da! Tozier!«
Richie drehte sich um und sah sie durch die regennassen Büsche auf sich zukommen. Victor führte... und dann stieß Henry ihn so heftig beiseite, daß er ausrutschte und auf die Knie fiel. Henry hatte tatsächlich ein Messer
- ein Messer, das so aussah, als würde es sich gut zum Schweineschlachten eignen. Von der Klinge rannten Wassertropfen.
Richie spähte in den Zylinder, sah, daß Mike unten angekommen war, und schwang sich über den Rand. Henry begriff, was er vorhatte, und schrie ihm etwas zu. Richie lachte hysterisch und schüttelte die Faust.
»Ihr werdet da unten krepieren!« brüllte Henry.
»Das wollen wir erst mal sehen!« schrie Richie. Er hatte Angst, in den Betonhals der Pumpstation hinabzuklettern, aber trotzdem konnte er nicht aufhören zu lachen. Und er posaunte mit seiner >Stimme eines irischen Bul-len<: »Das Glück läßt die Iren nie im Stich, merk dir das, mein lieber Freund!«
Henry rutschte auf dem nassen Gras aus und fiel auf den Hintern, kaum 20 Fuß von Richie entfernt, der auf der obersten Sprosse stand, sich am Zylinderrand festhielt und bis zur Brust zu sehen war.
»O weia, wenn der Arsch nur nicht aus dem Leim gegangen ist!« brüllte Richie triumphierend und kletterte geschwind die Leiter hinab. Die Eisensprossen waren schlüpfrig, und einmal wäre er fast abgerutscht. Dann griffen Bill und Mike ihm unter die Arme, und er stand neben den anderen bis zu den Knien im Wasser. Er zitterte am ganzen Leibe, heiße und kalter Schauder liefen ihm abwechselnd über den Rücken, aber trotzdem konnte er nicht aufhören zu lachen.
»Du hättest ihn sehen sollen, Big Bill, schwerfällig wie eh und je, stolpert immer noch über seine eigenen Beine...«
Henrys Kopf tauchte oben auf. Seine Wangen waren von Dornen und Ästen zerkratzt. Seine Augen schleuderten haßerfüllte Blitze.
»Okay!« brüllte er hinab. Seine Worte wurden von dem Betonzylinder dumpf zurückgeworfen, ohne ein richtiges Echo zu erzeugen. »Jetzt hab' ich euch!«
Er schwang ein Bein über den Rand, tastete mit dem Fuß nach der obersten Sprosse und schwang auch das andere Bein hinüber.
Bill erklärte mit lauter Stimme: »W-W-Wenn er ein Sch-Sch-Stück r-run-tergeklettert ist, p-p-p-packen wir ihn und ziehen ihn zu uns. Und d-d-dann t-t-t-tauchen wir ihn unter. Verstanden?«
»Verstanden!« rief Richie und salutierte mit zittriger Hand.
»Verstanden«, sagte auch Ben.
Stan versetzte Eddie einen leichten auffordernden Rippenstoß, aber Eddie begriff nicht, was von ihm erwartet wurde. Ihm kam es so vor, als hätte Richie den Verstand verloren. Er lachte wie verrückt, während Henry Bowers - der allseits gefürchtete Henry Bowers - hinabstieg, um sie wie Ratten in einem Faß umzubringen.
»Alles bestens für ihn vorbereitet, Bill!« schrie Stan - aber seine Worte schienen mehr für Henry als für Bill bestimmt zu sein.
Über ihnen blieb Henry auf der dritten Sprosse von oben plötzlich stehen. Er warf über die Schulter hinweg einen Blick in die Tiefe. Er wirkte jetzt etwas verunsichert. Victor und Belch beugten sich über den Zylinderrand.
Und plötzlich begriff Eddie. Sie konnten nur einer nach dem anderen hinabsteigen. Zum Hinunterspringen war es viel zu hoch, besonders weil die Gefahr bestand, auf der Pumpe zu landen. Und hier unten standen sie zu siebent dicht nebeneinander im Kreis.
»K-K-Komm schon, Henry«, rief Bill liebenswürdig. »W-Worauf w-w-wartest du?«
»Ja, worauf wartest du, Henry?« fiel Richie ein. »Du verprügelst doch so gern kleine Kinder, stimmt's? Dann komm doch runter!«
»Wir warten, Henry«, rief Beverly freundlich. »Ich glaube nicht, daß es dir gefallen wird, wenn du erst mal hier bist, aber komm ruhig, wenn du möchtest!«
»Oder hast du etwa Angst?« fügte Ben hinzu. Henry blickte zu ihnen hinab; er umklammerte sein Messer mit der linken Hand, und sein Gesicht lief vor Wut ziegelrot an.
Gleich darauf kletterte er wieder aus dem Zylinder heraus,, begleitet von lautem Pfeifen, Zischen und Buh-Rufen der sieben Freunde.
»O-O-Okay«, sagte Bill leise. »Und jetzt sch-sch-schnell ins Rohr hinein.«
»Wozu denn, Bill?« fragte Beverly, aber Bill konnte sich die Antwort sparen, denn Henrys Oberkörper tauchte wieder über dem Rand des Zylinders auf, und er warf einen großen Stein hinab. Beverly schrie auf, und Stan zog geistesgegenwärtig Eddie nach hinten an die Wand. Der Stein fiel auf das rostige Stahlgehäuse der Pumpe - boing! - prallte ab und flog direkt neben Eddie gegen die Wand. Ein Betonsplitter zerkratzte ihm die Wange. Der Stein landete im Wasser, das hochspritzte wie ein Geysir.
»R-R-Rasch!« schrie Bill wieder, und sie zogen sich in das Rohr zurück, das in die Pumpstation mündete und einen Durchmesser von etwa vier Fuß hatte. Sie mußten sich alle etwas bücken, aber hier waren sie in Sicherheit. Weitere Steine kamen heruntergeflogen; die meisten schlugen auf der Pumpe auf und prallten in den verschiedensten Winkeln von ihr ab.