(Beverly, Beverly Marsh)
gewesen sein mochte. Sie erwachte aufrecht im Bett sitzend, schweißgebadet, mit schreckensweit aufgerissenen Augen keuchend, als hätte sie gerade an einem Wettlauf teilgenommen. Sie griff nach ihren Beinen und rechnete halb damit, daß sie kalt und naß von dem Wasser sein würden, durch das sie im Traum gewatet war. Aber sie waren trocken.
Sie sah sich um und hatte keine Ahnung, wo sie war - dies war nicht ihr Haus in Topanga Canyon, und es war auch nicht das gemietete Haus in
Fleet. Dies war Nirgendwo, eine Vorhölle, die mit einem Bett, einem Toilettentisch, zwei Stühlen und einem Fernseher ausgestattet war.
»O Gott, nun komm schon, Audra...«
Sie rieb sich mit den Händen kräftig das Gesicht, und dann funktionierte ihr Gedächtnis wieder. Jenes schreckliche Gefühl eines geistigen Schwindelanfalls legte sich. Sie war in Derry. Derry, Maine, wo ihr Mann seine Kindheit verbracht hatte, an die er sich angeblich nicht mehr erinnerte. Für sie war das kein vertrauter Ort, und ihr Gefühl sagte ihr, daß es kein besonders angenehmer Ort war, aber zumindest wußte sie jetzt wieder, wo sie war. Sie war hier, weil Bill hier war, und sie würde ihn morgen in Derry im Derry Town House sehen. Was immer hier auch Schreckliches vorgehen mochte, was auch immer jene plötzlich auf seinen Händen aufgetauchten Narben zu bedeuten hatten - sie würden sich dem gemeinsam stellen. Sie würde ihn anrufen, ihm sagen, daß sie hier war, sie würde zu ihm gehen. Und danach...
Undurchdringliche Schwärze. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, an einem Ort zu sein, der wirklich Nirgendwo war, drohte zurückzukehren. Mit neunzehn hatte sie mit einer schäbigen kleinen Theatergruppe eine Tournee gemacht - sie hatten in 47 Tagen in 40 verschiedenen kleineren Städten 40 Vorstellungen von >Arsenic and Old Lace< gegeben; sie hatten im >Peabody Dinner Theater< in Massachusetts angefangen und im >Play It Again Sam Revival Theater< in Sausalito aufgehört. Und irgendwann zwischendurch, in irgendeiner Stadt im Mittelwesten wie Ames oder Grand Isle oder Jubilee, war sie wie jetzt mitten in der Nacht aufgewacht und in Panik geraten, weil ihr jede Orientierung fehlte, weil sie nicht wußte, in welcher Stadt sie war, welches Datum oder wieviel Uhr es war. Sogar ihr eigener Name war ihr unwirklich vorgekommen.
Dieses Gefühl war damals bald vergangen, aber jetzt hatte sie es wieder, in noch stärkerem Ausmaß. Ihr Alptraum wirkte immer noch nach, und sie verspürte eine grenzenlose Angst. Die Stadt schien sich um sie gewickelt zu haben wie eine Riesenschlange. Sie konnte sie spüren, und sie rief in ihr keine guten Gefühle hervor. Sie stellte fest, daß sie wünschte, sie hätte Freddies Rat befolgt und wäre weggeblieben.
Sie versuchte sich ausschließlich auf Bill zu konzentrieren, sich an dem Gedanken an ihn festzuklammern wie eine Ertrinkende an einem Rettungsring, einer Schiffsplanke, an irgend etwas, das schwimmt.
(wir alle schwimmen hier unten, Audra, wir schwimmen und schweben und flie
gen)
Ein kalter Schauder überlief sie, und sie verschränkte unwillkürlich ihre Arme über den nackten Brüsten. Sie bemerkte, daß sie am ganzen Körper eine Gänsehaut hatte. Einen Moment lang war es ihr so vorgekommen, als hätte eine Stimme laut gesprochen, aber in ihrem Kopf. So als befände sich dort ein Fremder.
Werde ich verrückt? O Gott, ist es das?
Nein, erwiderte ihr Verstand. Es ist nichts weiter als Desorientierung... der Flug... die Zeitverschiebung... die Sorgen, die du dir um deinen Mann machst. Niemand spricht in deinem Kopf. Niemand...
»Wir alle schweben hier unten, Audra«, sagte eine Stimme aus dem Bade-
zimmer. Es war eine reale Stimme, aber sie hatte etwas Schreckliches an sich. Etwas Schlaues und Gemeines und Böses. »Auch du wirst schweben.« Die Stimme stieß ein leises Kichern aus, das immer tiefer wurde, bis es sich anhörte wie das Blubbern in einem verstopften Rohr. Audra schrie auf... und dann preßte sie beide Hände vor den Mund.
Ich habe das nicht gehört.
»Ich habe das nicht gehört«, sagte sie laut und riskierte es einfach, daß die Stimme ihr vielleicht widersprechen würde. Aber das geschah nicht. Es war ganz still im Zimmer. Irgendwo in der Ferne pfiff ein Zug in der Nacht.
Plötzlich brauchte sie Bill so dringend, daß es ihr unmöglich vorkam, bis zum Tagesanbruch zu warten. Sie war in einem ganz gewöhnlichen Motelzimmer, das sich in nichts von den 39 anderen Zimmern dieses Motels unterschied, aber plötzlich war es ihr zuviel. Wenn man an einem Ort plötzlich Stimmen hörte, so war das einfach zuviel, zu unheimlich. Sie hatte das Gefühl, in den Alptraum zurückzugleiten, dem sie entronnen war. Sie hatte Angst und fühlte sich furchtbar allein und verlassen.
Audra schaltete die Nachttischlampe ein und schaute auf ihre Uhr. Es war zwölf nach drei. Er würde schlafen, aber das war ihr jetzt ganz egal - sie wollte nur eins: seine Stimme hören. Sie wollte den Rest dieser Nacht mit ihm zusammen verbringen. Sie dachte, daß sie dann bestimmt keine Alpträume mehr haben würde. Sie schlug die Gelben Seiten im Telefonbuch auf, fand die Nummer des Derry Town House und wählte sie.
»Derry Town House.«
»Würden Sie mich bitte mit Mr. Denbroughs Zimmer verbinden? Mr. William Denbrough?«
»Wird dieser Bursche hin und wieder auch mal tagsüber angerufen?« murmelte der Hotelangestellte geheimnisvoll, aber bevor sie ihn fragen konnte, was das denn heißen sollte, hatte er die Verbindung hergestellt. Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal. Sie stellte sich vor, wie er tief unter der Decke schlief, so daß nur die Spitze seines Kopfes zu sehen war; sie stellte sich vor, wie er eine Hand unter der Decke hervorstreckte und nach dem Hörer tastete. Sie hatte ihn schon häufig dabei beobachtet, und ein zärtliches Lächeln glitt über ihr Gesicht, verschwand aber wieder, als das Telefon ein viertes Mal klingelte... ein fünftes, sechstes, siebtes Mal. Beim achten Klingelzeichen wurde die Verbindung unterbrochen.
»In diesem Zimmer meldet sich niemand.«
»Sind Sie ganz sicher, daß Sie im richtigen Zimmer angerufen haben?« fragte Audra noch verwirrter und ängstlicher als zuvor.
»Jawohl«, sagte der Angestellte. »Mr. Denbrough erhielt vor knapp fünf Minuten einen Anruf aus unserem Haus. Ich weiß, daß er diesen Anruf entgegengenommen hat, denn das Licht auf dem Schaltbrett hat ein-zwei Minuten geleuchtet. Er muß in das Zimmer des Anrufers gegangen sein.«
»Und welche Nummer hat dieses Zimmer?«
»Das weiß ich nicht mehr. Es war eins im sechsten Stock, glaube ich. Aber...«
Sie legte den Hörer auf. Eine qualvolle Gewißheit überkam sie - es war eine Frau. Irgendeine Frau hatte Bill angerufen... und er war zu ihr gegangen. Nun, und was jetzt, Audra? Wie sollen wir das verkraften?
Sie war den Tränen nahe. Sie brannten in ihren Augen, in ihrer Nase; sie spürte ein Schluchzen in ihrer Kehle aufsteigen. Keinen Zorn, zumindest noch nicht... nur ein schreckliches Gefühl von Verlust und Einsamkeit.
Audra, jetzt beherrsch dich mal. Du ziehst Schlußfolgerungen, die absolut nicht zwingend sind. Es ist mitten in der Nacht, und du hast einen Alptraum gehabt, und nun glaubst du, daß Bill bei einer anderen Frau ist. Aber das muß nicht so sein. Was du jetzt also tun wirst, ist, dich hinzusetzen - einschlafen wirst du sowieso nicht mehr. Schalt ein paar Lampen ein und lies den Roman zu Ende, den du dir für den Flug mitgenommen hast. Keine Alpträume mehr. Keine Stimmen mehr. Keine hysterischen, voreiligen Schlußfolgerungen mehr. Dorothy Sayers und Lord Peter, das ist genau das Richtige. >The Nine Taüors<. Das wird dir die Zeit bis zum Tagesanbruch vertreiben. Das wird...