Plötzlich ging im Bad das Licht an; sie konnte es durch den Spalt der Tür sehen. Dann klickte die Klinke, und die Badezimmertür flog auf. Audra starrte mit aufgerissenen Augen dorthin und verschränkte unwillkürlich wieder die Arme vor der Brust. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, und sie spürte den herben Geschmack von Adrenalin im Mund.
Diese tiefe, schleppende Stimme sagte: »Wir alle schweben hier unten, Audra.« Das letzte Wort wurde zu einem langen, nur allmählich verklingenden Schrei - Audraaaaaaaa -, der wieder in jenem grausigen Blubbern endete, das einem Lachen so sehr ähnelte.
»Wer ist da?« schrie sie und wich etwas zurück. Das habe ich mir nicht nur eingebildet, auf gar keinen Fall, das kannst du mir nicht weismachen...
Der Fernseher schaltete sich ein. Sie wirbelte herum und sah einen Clown in silbrigem Kostüm mit großen orangefarbenen Knöpfen, der auf dem Bildschirm Luftsprünge machte. Anstelle der Augen gähnten nur leere schwarze Höhlen, und als sich die blutrot geschminkten Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen, sah sie rasierklingenartige Zähne. Er hielt einen abgetrennten Kopf in die Höhe, von dem Blut herabtropfte. Die Augen des Kopfes waren so verdreht, daß nur das Weiße zu sehen war, und der Unterkiefer war heruntergefallen, aber sie konnte dennoch genau erkennen, daß es Freddie Firestones Kopf war. Der Clown lachte und tanzte. Er schwenkte den Kopf herum, und Bluttropfen spritzten gegen die Innenseite des Bildschirms.
Audra versuchte zu schreien, brachte aber nur ein ganz leises Wimmern hervor. Sie griff blindlings nach ihrem Kleid, das über einer Stuhllehne hing, und nach ihrer Handtasche. Sie stürzte auf den Gang hinaus und schlug keuchend, mit schneeweißem Gesicht, die Tür hinter sich zu. Sie klemmte sich die Handtasche zwischen die Knie und streifte ihr Kleid über den Kopf.
»Schweben«, kicherte eine leise Stimme hinter ihr, und sie spürte, wie kalte, tote Finger sie an einer nackten Ferse berührten.
Sie stieß wieder einen hohen, atemlosen Schrei aus und sprang von der Tür weg. Weiße Leichenfinger zuckten darunter vor und zurück; die Nägel fehlten; nur das rötlichweiße blutlose Nagelbett war noch zu sehen. Die Finger kratzten leise über den rauhen Teppichboden im Gang.
Audra bückte sich, packte ihre Handtasche am Griff und rannte barfuß auf die Tür am Ende des Ganges zu. Sie war jetzt in blinder Panik, und sie
war von einem einzigen Gedanken besessen: das Town House und Bill zu finden. Es war ihr jetzt völlig egal, ob er mit einem Dutzend anderer Frauen im Bett lag oder nicht. Sie würde ihn finden und ihn dazu bringen, mit ihr von hier wegzufahren, weg von den unsagbaren Schrecken dieser Stadt.
Sie lief den Gehweg entlang zum Parkplatz und suchte verzweifelt nach ihrem Auto. Einen Moment lang konnte sie sich nicht mehr erinnern, was für eine Marke es gewesen war. Dann fiel es ihr wieder ein: Datsun, tabakbraun. Sie entdeckte ihn; der untere Wagenteil bis zur Radkappe verschwamm im dichten Bodennebel. Sie rannte darauf zu und suchte dann nach ihren Schlüsseln. Sie wühlte wild in ihrer Handtasche herum und versuchte sich von ihrer Panik nicht völlig aus der Fassung bringen zu lassen. Sie bemerkte den schäbigen LTD überhaupt nicht, der Motorhaube an Motorhaube vor ihrem Mietwagen stand, und schon gar nicht den Mann am Steuer. Sie bemerkte es auch nicht, als die Tür des LTD geöffnet wurde und der Mann ausstieg; sie hatte jetzt die entsetzliche Befürchtung, daß sie die Wagenschlüssel im Hotelzimmer vergessen hatte. Und dorthin konnte sie nicht zurückgehen; sie schaffte es einfach nicht.
Ihre Finger berührten unter einem zerknüllten Kleenex-Tuch hartes Metall, und sie stieß einen leisen triumphierenden Laut aus. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie noch, es könnte auch der Schlüssel ihres Rovers sein, der jetzt 3000 Meilen entfernt auf dem Bahnhofsplatz in Fleet stand, doch dann ertastete sie den Plexiglasanhänger der Mietwagenagentur. Sie steckte den Schlüssel mit zittriger Hand ins Türschloß und drehte ihn. Sie atmete laut und stoßweise. In diesem Augenblick fiel eine Hand auf ihre Schulter, und sie schrie... diesmal schrie sie laut. Irgendwo bellte als Antwort ein Hund, aber das war auch schon alles.
Die stahlharte Hand grub sich schmerzhaft in ihre Schulter und riß sie herum. Das Gesicht, das auf sie herabstarrte, war verquollen und zerkratzt. Die kleinen Augen funkelten. Als die geschwollenen Lippen sich zu einem grotesken Lächeln verzogen, sah sie, daß der Mann einige abgebrochene Vorderzähne hatte.
Sie versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor. Die Hand packte noch fester zu.
»Habe ich Sie nicht schon im Kino gesehen?« flüsterte Tom Huggins.
3. Eddies Zimmer
Beverly und Bill zogen sich rasch an und verließen sein Zimmer. Auf halbem Wege zum Aufzug hörten sie irgendwo hinter sich gedämpft das Läuten eines Telefons.
»Bill, war das deins?« fragte Beverly.
»V-V-Vielleicht jemand von den a-a-a-anderen«, sagte er und drückte auf den Aufzugsknopf.
Eddie öffnete ihnen die Tür; sein Gesicht war weiß und vom Schock gezeichnet. Sein rechter Arm baumelte in einem unnatürlichen Winkel herab. »Eddie, o mein Gott...«, rief Beverly.
»Mir geht's ganz gut«, fiel er ihr ins Wort. »Ich habe zwei Darvon genommen. Die Schmerzen sind momentan nicht so schlimm.« Aber sein Aussehen strafte seine Worte Lügen. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepreßt und violett verfärbt.
Bill sah hinter Eddie den Körper am Boden. Ein einziger Blick genügte, um ihn von zweierlei zu überzeugen - es war Henry Bowers, und er war tot. Bill kniete sich neben der Leiche hin. Die Perrierflasche war tief in Henrys Leib eingedrungen. Henrys glasiges unverletztes Auge war halb geöffnet. Sein Unterkiefer hing herab, und der Mund war mit gerinnendem Blut gefüllt. Seine Hände hatten sich zu Klauen gekrümmt.
Ein Schatten fiel über ihn, und Bill blickte hoch. Es war Beverly. Sie betrachtete die Leiche mit völlig ausdruckslosem Gesicht.
»Wie oft hat er uns verfolgt«, sagte Bill.
Sie nickte. »Er sieht nicht alt aus. Ist dir das auch aufgefallen, Bill? Er sieht überhaupt nicht alt aus.« Sie drehte sich abrupt nach Eddie um, der auf dem Bett saß. Eddie sah alt aus; alt und verhärmt. Sein Arm lag gebrauchsunfähig auf seinem Schoß. »Wir müssen einen Arzt für Eddie rufen.«
»Nein«, widersprachen Eddie und Bill gleichzeitig.
»Aber er ist verletzt! Sein Arm...«
»Es ist w-w-wie beim letzten M-Mal«, sagte Bill. Er stand auf, hielt sie an den Armen fest und schaute ihr in die Augen. »S-S-Sobald w-wir rausgehen. .. s-sobald wir uns an die Sch-Stadt w-w-w-wenden...«
»Sie werden mich wegen Mordes verhaften«, sagte Eddie dumpf. »Oder sie werden uns alle verhaften. Uns in Untersuchungshaft stecken. Irgend so was. Und dann wird irgendein Unfall passieren. Einer jener komischen Unfälle, zu denen es in Derry immer wieder kommt. Wie die Explosion in der Eisenhütte. Oder wie der Massenmord, der sich etwa ein Jahr vorher ereignete. Alle haben einfach an der Bar weitergetrunken, während so ein verrückter Kerl vier Männer niedermetzelte. Mike hat mir davon erzählt. Eine tolle Gutenachtgeschichte. Weißt du denn nicht mehr, wie es damals war, Bev?«
»Aber jetzt sind wir erwachsen! Du glaubst doch nicht wirklich... ich meine, er ist mitten in der Nacht hergekommen... hat dich angegriffen...«
»Womit denn?« sagte Bill. »W-Wo ist das M-M-Messer?«
Sie schaute sich um, konnte es nirgends entdecken und ließ sich auf die Knie fallen, um unter dem Bett danach zu suchen.
»Du kannst dir die Mühe sparen«, sagte Eddie mit schwacher, pfeifender Stimme. »Ich habe ihm den Arm in der Tür eingeklemmt, als er mich mit dem Messer erstechen wollte. Es ist ihm aus der Hand gefallen, und ich habe es unter den Fernseher gekickt. Es ist verschwunden. Ich habe schon nachgeschaut.«