Richie schaltete das Radio so heftig aus, daß der Knopf absprang und auf die Fußmatte fiel. »Bill...«, sagte Beverly.
Bill schüttelte nur den Kopf. Sein Gesicht war bleich und nachdenklich, und als es im Westen wieder donnerte, hörten sie es diesmal alle.
6. Die Barrens
Richie hielt an und parkte seinen Wagen. Sie stiegen aus und gingen zum Geländer zwischen dem Trottoir der Kansas Street und dem Steilabhang. Dieselbe Kansas Street, dasselbe Geländer, dieselben Barrens in der Tiefe, unberührt von den 27 Jahren, die vergangen waren, abgesehen von der Tatsache, daß die Eisenbahnbrücke durch die lange Autobahnbrücke ersetzt worden war. Die Bäume und Büsche schimmerten in den langsam dahinziehenden Nebelschwaden, unwirklich und gespenstisch. Während er am Geländer stand und hinabblickte, dachte Bilclass="underline" Vermutlich ist es das, was wir meinen, wenn wir vom Bild der Erinnerung sprechen, etwas wie dies hier, etwas, das man zur richtigen Zeit aus der richtigen Perspektive sieht, so daß alles, was in der Zwischenzeit geschehen ist, einfach verschwindet. Der Kreis hat sich jetzt wirklich geschlossen.
»K-K-Kommt«, sagte er und führte sie den Steilhang hinab. Sie brachten Schutt und Kieselsteine ins Rollen, und als sie unten angelangt waren, warf Bill automatisch einen Blick unter die Brücke. Silver war natürlich nicht da; Silver lehnte an der Wand von Mikes Garage. Anscheinend war Silver bei all dem keine Rolle zugedacht, obwohl das merkwürdig war, wenn man bedachte, auf welche Weise er sein altes Fahrrad plötzlich in jenem Ramschladen wiederentdeckt hatte.
»B-B-Bring uns dorthin«, sagte Bill zu Ben.
Ben schaute ihn an, dann nickte er. Der Pfad - ihr Pfad - war natürlich längst zugewachsen, und sie mußten sich mühsam einen Weg durch dichtes Dornengestrüpp, Büsche und duftende wilde Hortensien bahnen. Heimchen zirpten schläfrig um sie herum, und einige frühe Glühwürmchen flimmerten im Dunkeln. Bill vermutete, daß hier unten immer noch Kinder spielten, aber sie hatten sich bestimmt ihre eigenen Geheimpfade geschaffen. Sie kamen zu der Lichtung, wo ihr Klubhaus gewesen war, nur gab es diese Lichtung jetzt nicht mehr - die Büsche und verkümmerten Fichten hatten sie erobert.
Sie folgten Ben nach links in Richtung Kenduskeag - Bill, Bev, dann Richie und zuletzt Eddie. Das Plätschern des Wassers wurde immer lauter, aber sie stürzten wieder fast in den Fluß, bevor sie ihn sahen; das Gebüsch auf der Uferböschung bildete jetzt eine hohe dichte Barriere, so daß man nicht erkennen konnte, wo der Boden zum Fluß hin abfiel. Ben wäre fast abgerutscht, und Bill zog ihn zurück. »Danke«, sagte Ben.
»Nichts zu d-d-danken. In a-a-alten Z-Zeiten hättest d-du mich mit d-d-deinem Gewicht einfach mitgezogen. Da Hang?«
Ben nickte und führte sie am Ufer entlang; während er sich mühsam durch das Dickicht von Zweigen und Dornen kämpfte, dachte er, um wieviel einfacher so etwas war, wenn man nur viereinhalb Fuß groß war und sich nur ein bißchen zu bücken brauchte, um leicht unter irgendwelchen Hindernissen durchkriechen zu können. Alles verändert sich, dachte er. Jungen und Mädchen, heute haben wir gelernt, daß sich die Dinge um so mehr verändern, je mehr sie sich verändern. Sie...
Er stolperte über etwas, fiel der Länge nach hin und hätte sich um ein Haar den Kopf am Betonzylinder der Pumpstation angeschlagen, der hinter den dichten hohen Brombeerbüschen kaum noch zu sehen war. Als er wieder aufstand, stellte er fest, daß die Dornen ihm Gesicht und Hände zerkratzt hatten. Er war über den schweren Eisendeckel gestolpert - jemand hatte ihn schon weggeschoben. Alle fünf scharten sich um den Zylinder und blickten in die Tiefe. Sie konnten leise das Tröpfeln von Wasser hören. Das war auch schon alles. Richie hatte alle Streichholzheftchen aus Eddies Hotelzimmer mitgenommen. Er zündete ein Streichholz an und warf es in die Tiefe. Einen Moment lang konnten sie die feuchte Innenwand und die Umrisse der Pumpe erkennen. Dann wurde es wieder dunkel.
»Vielleicht ist der Deckel schon vor langer Zeit entfernt worden«, versuchte Richie sich und die anderen zu beruhigen. »Es braucht nicht gestern oder heute nacht passiert sein.«
»Gib mir mal die Streichhölzer«, sagte Bev.
Richie reichte sie ihr, und sie zündete eins dicht neben dem Deckel an. Seine Unterseite war naß, und im Licht der Streichholzflamme konnten sie sehen, daß aus den abgebrochenen Brombeerzweigen Saft austrat. »Das ist frisch«, sagte Richie.
»Etwas 1-1-liegt darunter«, stellte Bill fest.
»Was, Big Bill?« fragte Ben.
»K-K-Kann ich nicht s-s-s-sagen. Helft m-mir, ihn umzudrehen.«
Ben und Richie packten mit an, und zu dritt kippten sie den Deckel um wie eine riesige Münze. Beverly zündete ein neues Streichholz an. »Mein Gott, das ist doch eine Handtasche, oder?« sagte sie, an Bill gewandt. Und gleich darauf: »Bill? Um Gottes willen, was ist los?«
Bill hatte das Gefühl, als wären seine Augen auf einmal zentnerschwer. Er konnte sie nicht bewegen, konnte sie nicht von jener Korduanlederhand-tasche abwenden. Er hatte plötzlich überhaupt keinen Speichel mehr im Mund, und seine Zunge und Wangeninnenflächen fühlten sich völlig ausgetrocknet an. Er hörte verschwommen das irrsinnige Zirpen von Grillen und dachte: Es ist nur ein neuer Trick, nur eine weitere Sinnestäuschung, sie ist in England, und dies ist nur ein billiger Trick, weil Es Angst hat, o ja, Es ist jetzt vielleicht nicht mehr so siegessicher wie vor kurzem, und außerdem - wieviel Korduanle-dertaschen mag es auf der Welt geben? Eine Million? Zehn Millionen?
»Bill?« Beverly hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und schüttelte ihn. Weit entfernt. 27 Jahre entfernt. Jene Handtasche...
Er riß Beverly die Streichhölzer aus der Hand, zündete eins an und leerte den Tascheninhalt aus. Was herausfiel, waren so unverkennbar Audras Sachen, daß ihm sogar zu einem Aufschrei jede Kraft fehlte: die mit Edelsteinen besetzte Puderdose, die Freddie Firestone ihr geschenkt hatte, als sie den Vertrag für >Attic Room< unterschrieb, ihre Brieftasche aus Krokodilleder, ein Dunhill-Feuerzeug, eine zerknitterte Packung Winstons, eine für sie typische Kollektion von Kleenex-Tüchern, ihr Sonnenbrillenetui.
»Meine F-F-Frau ist dort u-unten«, sagte er, fiel auf die Knie und begann ihre Sachen wieder in die Tasche zu schieben. Er strich sich nicht mehr vorhandene Haare aus der Stirn und merkte es nicht einmal.
»Deine Frau? Audra?« Beverly starrte ihn entsetzt an.
»Es ist ihre T-T-Tasche. Ihre S-Sachen.«
»Mein Gott, Bill«, murmelte Richie. »Aber das ist doch ganz unmöglich, das weißt du doch se...«
Bill griff nach Audras Brieftasche, öffnete sie und hielt sie hoch. Richie zündete ein neues Streichholz an und sah gleich darauf ein Gesicht, das ihm aus einem halben Dutzend Filmen bekannt war. Das Foto in Audras kalifornischem Führerschein schloß jeden Zweifel an ihrer Identität aus.
»Aber H-H-H-Henry ist t-tot... und V-Victor... und B-B-B-Belch... w-wer kann denn das n-nur getan haben?« Halb wahnsinnig vor Kummer starrte er sie alle an. »W-Wer k-kann das getan h-h-haben?«
Ben legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube, wir sollten runtersteigen und es herausfinden; was meinst du?«
Bill drehte sich nach ihm um, betrachtete ihn einen Moment lang, als wisse er nicht, wer Ben sei, und dann wurde sein Blick wieder klar. »Ja«, sagte er. »E-E-Eddie?«
»Bill, es tut mir ja so leid«, sagte Eddie.
»K-K-Kannst du dich an m-mir festh-h-halten?«
»Ich hab's schließlich schon einmal geschafft.«