Das Streichholz verbrannte Bill die Finger, und er ließ es fallen. Sie standen wieder im Dunkeln. Jemand - Beverly, so glaubte Bill - seufzte. Aber bevor das Streichholz erloschen war, hatte er noch gesehen, daß Eddie sehr beunruhigt aussah.
»W-W-Was? Was ist Hos?«
»Wenn ich sage, daß wir uns unter dem Up-Mile Hill befinden, so meine ich damit - wirklich unter ihm. Wir haben uns jetzt schon lange Zeit ständig nach unten bewegt. Niemand legt Abwasserkanäle in dieser Tiefe an. Tunnels in dieser Tiefe bezeichnet man eher als Minenschächte.«
»Was glaubst du, wie tief unter der Erde wir sind, Eddie?« fragte Richie.
»Eine Viertelmeile«, sagte Eddie. »Vielleicht auch mehr.«
»Jesus, Maria und Josef!« murmelte Bev.
»Das sind wirklich keine Abflußrohre mehr«, erklärte Stan. »Das merkt man am Geruch. Hier stinkt's zwar, aber nicht mehr nach Abwässern.«
»Ich glaube, der Abwassergestank war mir immer noch lieber«, sagte Ben. »Hier riecht's nach...«
Aus dem Rohr, durch das sie vor kurzem gekrochen waren, drang ein
Schrei an ihre Ohren. Bill sträubten sich die Nackenhaare, und alle sieben scharten sich eng zusammen.
».. .kriegen euch Arschlöcher schon! Wir kriegen euch schoooon...«
»Henry!« flüsterte Eddie. »O mein Goff!«
Schwache Geräusche kamen aus dem Rohr: Keuchen und das Schaben von Schuhen und das Knistern von Stoff.
»... euch schooooon...«
»K-K-Kommt«, sagte Bill.
Sie schlurften das Rohr hinab, immer zwei nebeneinander, bis auf Mike, der die Nachhut bildete: Bill und Eddie, Richie und Bev, Ben und Stan.
»W-W-Was g-glaubst du, wie w-weit zurück Henry ist?«
»Das kann ich nicht sagen, Big Bill«, erklärte Eddie entschuldigend. »Das Echo ist zu stark.« Er senkte die Stimme. »Hast du den Knochenhaufen gesehen?«
»J-J-Ja«, sagte Bill ebenso leise.
»Bei den Kleidern lag auch ein Galvometer oder wie das Ding heißt, mit dem man messen kann, wieviel Wasser durch ein Rohr fließt. Das muß ein Arbeiter des Wasserwerks gewesen sein.«
»G-G-Glaub' ich auch.«
»Was meinst du, wie lange...?«
»Ich w-w-weiß n-nicht.«
Eddie umklammerte mit seiner Hand im Dunkeln Bills Arm.
Etwa eine Viertelstunde später hörten sie in der Dunkelheit etwas auf sich zukommen. Richie blieb schreckensstarr stehen. Plötzlich war er wieder drei Jahre alt und kämpfte ohne viel Erfolg gegen seine wilde Panik an. Er lauschte jenen schabenden, saugenden Geräuschen, die immer näher kamen, und noch bevor Bill ein Streichholz anzündete, wußte er, was es sein würde... und das war es auch.
»Das auge!« schrie er. »O Gott, es ist das kriechende auge!«
Einen Moment lang waren die anderen nicht sicher gewesen, was sie sahen (Beverly hatte den Eindruck, als hätte ihr Vater sie gefunden, sogar hier unten; und Richie hatte eine vage Vision, daß Patrick Hockstetter wieder lebendig geworden war, daß Patrick sie irgendwie überholt hatte), aber Richies Schrei - und seine Gewißheit - ließ Es für sie alle jene Gestalt annehmen, die Richie gesehen hatte - genauso wie damals im Haus auf der Nei-bolt Street.
Ein gigantisches Auge füllte den Tunnel aus; die glasige schwarze Pupille hatte einen Durchmesser von etwa zwei Fuß, die Iris war schmutzig rotbraun. Das etwas vorgewölbte Weiße war mit roten Venen durchzogen, die gleichmäßig pulsierten. Es hatte weder ein Lid noch Wimpern - ein gallertartiges schreckliches Ding, das sich auf dünnen Tentakeln fortbewegte, die nach dem bröckligen Tunnelboden tasteten und sich hineingruben wie Finger, so daß im Schein von Bills zitternder Streichholzflamme der Eindruck entstand als wären dem Auge alptraumhafte Finger gewachsen, die es vorwärtszogen. Es starrte sie mit fieberhafter Gier an... und dann erlosch das Streichholz.
Im Dunkeln spürte Bill, wie zwei dieser dünnen Tentakel über seine Fußknöchel, über seine Schienbeine streiften... aber er konnte sich nicht bewegen. Er war vor Entsetzen wie angefroren. Er fühlte, wie dieser kriechende Schrecken immer näher kam, er nahm wahr, daß Hitze davon ausging, er hörte das nasse Pulsieren der Membrane. Er stellte sich vor, daß die Tentakel sich bestimmt klebrig anfühlen würden, aber er konnte weder schreien noch sich bewegen. Sogar als neue Tentakel sich um seine Taille schlangen und ihn vorwärtszogen, brachte er keinen Laut heraus. Eine tödliche Schläfrigkeit schien seinen ganzen Körper befallen zu haben.
Beverly spürte, wie einer der Tentakel sich um ihre Ohrmuschel legte und sich plötzlich wie eine Schlinge eng zusammenzog. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, und dann wurde sie vorwärtsgezogen, zappelnd und stöhnend, so als hätte eine alte Lehrerin die Geduld mit ihr verloren und zerrte sie am Ohr in die hintere Ecke des Klassenzimmers, wo sie auf einem Holzklotz Platz nehmen und eine Dummkopf<Kappe aufsetzen mußte. Stan und Richie versuchten auszuweichen, aber unzählige Tentakel sausten durch die Luft und glitten über ihre Körper. Ben legte einen Arm um Bev und versuchte sie zurückzureißen. Sie umklammerte seine Hände in panischem Schrecken.
»Ben... Ben, Es hat mich erwischt!«
»Nein... nein... warte, ich ziehe...«
Er zog mit aller Kraft, und Beverly schrie, weil der Schmerz an ihrem Ohr schier unerträglich wurde und es zu bluten begann. Ein trockener, harter Tentakel schabte an Bens Hemd entlang und schlang sich dann schmerzhaft fest um seine Schulter.
Bill erwachte aus seiner Erstarrung und streckte eine Hand aus; sie sank in etwas Klebriges, Nasses, Nachgiebiges ein. Das Kriechende Auge! schrie eine innere Stimme in ihm. O Gott, meine Hand ist ins Auge geraten! O Gott! O lieber Gott, nein! Nein!
Er begann zu kämpfen, aber die Tentakel zogen ihn unerbittlich vorwärts. Seine Hand verschwand im Kriechenden Auge, in dieser gierigen Hitze. Sein Unterarm. Bis zum Ellbogen war sein Arm nun schon im Auge versunken; jeden Moment würde nun auch sein übriger Körper mit dieser klebrigen Oberfläche in Berührung kommen, und er fühlte, daß er dann wahnsinnig werden würde. Er kämpfte verzweifelt, versuchte mit der freien Hand nach den Tentakeln zu schlagen.
Eddie Kaspbrak hatte die erstickten Schreie und die Kampfgeräusche wie im Traum wahrgenommen. Er spürte rings um sich die Tentakel, aber bisher war noch keiner direkt auf ihm gelandet. Seine Freunde - Mike ausgenommen - wurden unaufhaltsam in Richtung des Kriechenden Auges gezogen.
Renn nach Hause! riet sein Verstand ihm gebieterisch. Renn nach Hause zu deiner Mama, Eddie! Du findest den Weg nach draußen!
Bill schrie im Dunkeln - ein hoher, verzweifelter Laut, dem völlig unbeschreibliche Geräusche folgten: eine Art Sabbern, Saugen, Geifern.
Eddies Lähmung fiel mit einem Schlag von ihm ab - Es versuchte, Big Bill zu verschlingen!
»nein!« brüllte Eddie - es war ein wildes Röhren, und niemand hätte gedacht, daß es aus Eddie Kaspbraks schmaler Brust kam - Eddie Kaspbrak, der so zart und schwächlich war, der unter dem stärksten Asthma in ganz
Derry litt. Es war ein barbarischer Wutschrei. Eddie stürzte vorwärts, sprang über tastende Tentakel hinweg, ohne sie zu sehen; sein gebrochener Arm schwang in der Schlinge hin und her, schlug ihm gegen die Brust. Er griff in seine Tasche und zog seinen Aspirator heraus.
(Säure)
Er prallte gegen Bills Rücken und stieß ihn beiseite - ein tiefes gieriges Quäken ertönte, das Eddie nicht so sehr mit den Ohren hörte als vielmehr im Geist wahrnahm. Er hob den Aspirator
(Säure)
und drückte auf die Flasche. Ein Strahl schoß daraus hervor. »Pack dich!« schrie er und kickte nach dem Kriechenden Auge. Sein Fuß bohrte sich tief in seine gallertartige Hornhaut, und eine warme Flüssigkeit ergoß sich auf sein Bein. Er riß seinen Fuß zurück und bemerkte kaum, daß er seinen Schuh verloren hatte.