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Mike wühlte in seiner Hosentasche und zog ein Taschenmesser heraus. Er klappte die Klinge auf, und als der Vogel wieder auf Eddie herabschoß, stürzte er vor und führte einen raschen Schnitt quer über eine der Klauen. Blut floß aus der tiefen Wunde. Der Vogel flog empor, legte dann seine Flügel an und sauste auf sie zu wie eine Kugel. Mike ließ sich im letzten Moment zu Boden fallen, während er gleichzeitig mit dem Messer zustieß. Er verfehlte den Vogel jedoch, und seine Kralle schlug mit solcher Kraft gegen sein Handgelenk, daß sein ganzer Unterarm und seine Hand völlig taub wurden. Der blaue Fleck breitete sich später fast bis zum Ellbogen aus. Das Messer flog ihm aus der Hand.

Der Vogel kreischte triumphierend und setzte erneut zum Angriff an. Mike warf sich über Eddie und rechnete mit dem Schlimmsten.

Stan ging auf die beiden am Boden übereinanderliegenden Jungen zu, als der Vogel mit rauschendem Flügelschlag zu diesem neuen Angriff ansetzte. Dann blieb er stehen, klein und trotz des Schmutzes auf Armen, Händen und Kleidern seltsam adrett, und plötzlich breitete er in eigenartiger Weise die Hände aus - die Handflächen nach oben, die Finger nach unten. Der Riesenvogel stieß wieder einen Schrei aus und schwenkte von Eddie und Mike ab, nahm Stan aufs Korn und verfehlte ihn nur um wenige Zoll; seine Haare flatterten von seinem heftigen Flügelschlag. Er drehte sich auf der Stelle um sich selbst und beobachtete, wie der Vogel wieder kehrtmachte und auf ihn zugeflogen kam.

»Ich glaube an scharlachrote Tangaren, obwohl ich nie welche gesehen habe«, sagte er mit tiefer, sicherer Stimme. Der Vogel schrie und wich zurück, als hätte Stan auf ihn geschossen. »Dasselbe gilt von Geiern und den Schmutzfinken Neu Guineas und den Flamingos Brasiliens.« Der Vogel kreischte, beschrieb einen Kreis und flog plötzlich in den Tunnel hinein. »Ich glaube an den goldenen kahlen Adler!« schrie Stan ihm hinterher. »Und ich glaube, daß es irgendwo vielleicht wirklich einen Phönix geben könnte! Aber an dich glaube ich nicht, also verschwinde und laß dich nicht wieder hier blicken!«

Er verstummte, und tiefe Stille trat ein.

Dann gingen Bill, Ben und Beverly zu Mike und Eddie; sie halfen Eddie aufzustehen, und Bill schaute sich seine Kratzwunden an. »N-N-Nicht t-tief«, stell teer fest. »Aber ich w-w-wette, daßsieh-höllischb-b-b-brennen.«

»Es hat mein Hemd zerrissen, Big Bill«, klagte Eddie. Auf seinen Wangen schimmerten Tränen, und sein Atem ging pfeifend. Von der barbarisch brüllenden Stimme war nichts mehr übrig, und es fiel schwer zu glauben, daß es sie jemals gegeben hatte. »Was soll ich nur meiner Mutter sagen?«

Bill lächelte ein wenig. »Darüber können wir uns immer noch den Kopf zerbrechen, wenn wir erst einmal wieder draußen sind. Falls wir jemals hier herauskommen. Komm, benutz am besten mal deinen Aspirator, Eddie.«

Eddie inhalierte tief und schnaubte dann.

»Das war toll, Mann«, sagte Richie zu Stan. »Das war einfach fantastischl«

Ein heftiger Schauder überlief Stan. »Es gibt keinen solchen Vogel, das ist alles. Es hat ihn nie gegeben, und es wird ihn auch nie geben.«

»Wir kommen!« schrie Henry irgendwo hinter ihnen. Seine Stimme war die eines total Wahnsinnigen. Er lachte und heulte, wie irgendein der Hölle entstiegenes Wesen. »Ich und Belch! Wir kommen, und wir werden euch kleine Drecksäue schon noch erwischen! Ihr könnt uns nicht entwischen!«

Bill brüllte: »M-Macht lieber, daß ihr h-hier r-r-r-rauskommt, Henry! Solange ihr noch k-k-könnt!«

Henrys Antwort bestand aus einem hohlen, unartikulierten Schrei. Sie

hörten laute, rennende Schritte, und plötzlich schoß Bill eine Erkenntnis durch den Kopf: er begriff, weshalb Es Henry als Werkzeug benutzte: er war real, ihn konnte man nicht durch intensives Wünschen oder durch jene primitive Kindermagie aufhalten, die sie, wenn vielleicht auch ungeschickt, angewandt hatten.

»K-K-Kommt«, sagte er zu den anderen. »Wir m-m-müssen einen Vorsprung vor ihnen b-b-behalten.«

Sie faßten sich wieder an den Händen und gingen weiter. Das Licht wurde heller, der Tunnel noch größer. Er führte weiterhin nach unten, aber seine Decke schien immer höher zu werden, bis sie kaum noch zu sehen war. Sie hatten jetzt den Eindruck, als befänden sie sich überhaupt nicht mehr in einem Tunnel, sondern in einem riesigen unterirdischen Hofraum, der Auffahrt zu einem Schloß von ungeheuren Ausmaßen. Das Licht aus den Wänden war zu einem fließenden grünen und gelben Feuer geworden. Jener Geruch wurde noch stärker, und sie nahmen nun eine Vibration wahr, die vielleicht real, vielleicht aber auch nur in ihren Köpfen vorhanden war... ein telepathisches Signal. Es war gleichmäßig und rhythmisch.

Es war das Pochen eines Herzens.

»Da vorne endet der Weg!« rief Beverly. »Seht nur! Da ist eine blanke Wand!«

Aber als sie näher kamen - klein wie Ameisen auf diesem riesigen Fußboden aus schmutzigen Steinfliesen, von denen jede größer zu sein schien als der ganze Bassey-Park -, sahen sie, daß das doch nicht der Fall war. In der Wand befand sich eine einzige Tür. Und obwohl die Wand Hunderte von Fuß emporragte, war die Tür sehr klein. Sie war höchstens vier Fuß hoch, eine Tür wie aus einem Märchenbuch; sie bestand aus stabilen Eichenbrettern, die durch x-förmig angeordnete Eisenbeschläge verstärkt waren. Es war - das erkannten sie alle auf den ersten Blick - eine Tür für ein Kind.

Ben hörte im Geiste wieder die Bibliothekarin, die den Kleinen vorlas: Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke? Die Kinder beugten sich gespannt vor, und in ihren Augen spiegelt sich die uralte Faszination: Wird das Ungeheuer besiegt werden... oder wird es die Guten auffressen?

An der Tür war ein Zeichen, und darunter lag ein Haufen Knochen. Kleine Knochen. Knochen von Kindern. Gott allein mochte wissen, von wie vielen.

Sie waren vor seiner Behausung angelangt.

Das Zeichen an der Tür - was stellte es dar?

Bill Denbrough sah darin ein Papierboot.

Stan Uris glaubte einen zum Himmel emporsteigenden Vogel zu erkennen - vielleicht einen Phönix.

Für Michael Hanion war es ein kapuzenverhülltes Gesicht - wenn er es sehen könnte, dachte er, würde es sich als das Gesicht des verrückten Butch Bowers herausstellen.

Richie Tozier sah zwei Augen hinter einer Brille.

Beverly Marsh sah eine zur Faust geballte zuschlagende Hand.

Eddie Kaspbrak glaubte, es wäre das Gesicht des Aussätzigen, mit tief eingesunkenen Augen und faltigem Mund - alle Leiden, alle Krankheiten waren diesem Gesicht eingeprägt.

Und Ben Hanscom sah in dem Zeichen einen wirren Haufen Bandagen

- wie man sie von einer uralten Mumie abwickeln mag.

Als Henry Bowers später ganz allein vor derselben Tür stand, während Belchs Schreie noch in seinen Ohren dröhnten, sah er darin den Mond, voll und reif... aber schwarz umrandet.

»Ich habe Angst, Bill«, sagte Ben mit schwankender Stimme. »Müssen wir wirklich?«

Bill berührte die Knochen mit den Zehenspitzen, und plötzlich trat er heftig nach ihnen, so daß sie klappernd in alle Richtungen flogen. Auch er hatte Angst... aber da war George.