George und all die anderen - jene, die hierhergebracht worden waren, jene, die vielleicht noch hierhergebracht würden, jene, die einfach an verschiedenen anderen Orten liegengelassen worden waren und dort verwesten.
»Wir müssen«, sagte Bill.
»Und was, wenn die Tür verschlossen ist?« fragte Beverly mit dünner Stimme.
»Sie ist nicht verschlossen«, erwiderte Bill. »Plätze wie dieser sind nie verschlossen.« Er legte die steifen Finger der rechten Hand auf die Tür und drückte dagegen. Sie flog auf, und sie wurden von zuckendem, strudelndem unheimlichem gelbgrünem Licht überflutet. Und da war auch wieder jener Geruch wie im Zoo, aber jetzt unglaublich stark, unglaublich mächtig.
Einer nach dem anderen betraten sie durch die Märchentür seine Behausung.
7. In den Tunnels, 4.59 Uhr
Bill blieb so abrupt stehen, daß die anderen aufeinanderprallten wie Autos auf einem Güterzug, der plötzlich eine Notbremsung machen muß.
»Was ist los?« rief Ben.
»H-Hier war es«, sagte Bill. »Das K-K-Kriechende Auge. W-Wißt ihr noch?«
»Und ob«, sagte Richie grimmig. »Eddie hat Es mit seinem Aspirator vertrieben. Indem er so getan hat, als wäre Säure drin. Rechnest du damit, daß das Auge wieder auftaucht, Bill?«
»W-Wir werden n-n-nichts sehen, was wir d-d-d-damals gesehen haben«, sagte Bill. Er zündete ein Streichholz an und betrachtete seine Freunde. Ihre Gesichter leuchteten im Schein der Flamme, sie leuchteten und sahen irgendwie geheimnisvoll aus. Und sehr jung. »Wie geht's euch?«
»Uns geht's gut, Big Bill«, antwortete Eddie, aber sein Gesicht war schmerzverzerrt, und die Behelfsschiene, die Bill ihm angelegt hatte, hatte sich bedenklich gelockert. »Wie geht es dirl«
»Mit mir ist alles in Ordnung«, versicherte Bill und schüttelte rasch das Streichholz aus, damit sein Gesicht ihnen nicht etwas ganz anderes verraten konnte.
»Wie ist das nur passiert?« fragte Beverly und berührte im Dunkeln seinen Arm. »Bill, wie konnte sie...«
»W-W-Weil ich den N-Namen der Stadt erw-w-wähnt habe«, sagte er. »S-Sie muß mir g-g-gefolgt sein. Sch-Sch-Schon als ich es ihr erzählte, s-s-sagte mir eine innere Sch-Stimme, 1-1-1-lieber den M-Mund zu halten. A-Aber ich habe n-n-nicht darauf gehört.« Er schüttelte hilflos den Kopf. »Doch ich b-b-begreife nicht, wie s-sie hierher gekommen ist. W-Wenn Henry sie nicht hergebracht hat - wer dann?«
»Es«, schlug Ben vor. »Wir wissen ja, daß Es nicht unbedingt schlecht oder abstoßend aussehen muß. Es ist vielleicht aufgekreuzt und hat ihr erzählt, du seist in Schwierigkeiten. Und dann hat Es sie hergebracht, um... um dich verrückt zu machen, nehme ich an. Um dir deine Führerrolle unmöglich zu machen.«
»Oder es könnte auch Tom gewesen sein«, sagte Beverly leise.
»W-W-Wer?« Bill zündete ein neues Streichholz an.
Sie sah ihn mit einer Art verzweifelter Aufrichtigkeit an. »Tom. Mein Mann. Er wußte, wo ich bin. Zumindest habe ich ihm gegenüber den Namen der Stadt erwähnt, so wie du ihn Audra gegenüber erwähnt hast. Ich... ich weiß nicht, ob er ihm im Gedächtnis geblieben ist oder nicht. Er hatte in jenem Moment eine Mordswut auf mich.«
»Du lieber Himmel, das hört sich für mich aber nach ein bißchen zuviel Zufällen an«, sagte Richie zweifelnd.
»Nichts von all dem ist blinder Zufall«, widersprach Ben niedergeschlagen. »Bev ist hingegangen und hat Henry Bowers geheiratet. Und jetzt ist er zurückgekommen.«
»Nein«, sagte Bev ruhig, während Bill das Streichholz ausblies. »Ich habe nicht Henry geheiratet. Ich habe meinen Vater geheiratet. Ich... ich nehme an, daß ich schließlich beschlossen hatte, ihn feststellen zu lassen, ob ich noch unberührt war oder nicht.«
»Was?«
»Ach, nichts. Es spielt keine Rolle.«
»K-K-Kommt her«, sagte Bill. »R-Reicht euch die H-H-Hände.«
Sie taten es. Bill tastete nach Eddies heiler Hand und nach einer von Richies Händen. Gleich darauf standen sie im Kreis und hielten sich bei den Händen wie schon einmal vor langer Zeit, als sie noch zu siebt und nicht zu fünf t gewesen waren. Eddie spürte, daß jemand ihm einen Arm um die Schultern legte, und es war ein tröstliches und irgendwie sehr vertrautes Gefühl.
Bill spürte jene Kraft, jene Macht, an die er sich von damals noch erinnerte, aber er erkannte verzweifelt, daß sich wirklich einiges verändert hatte. Die von ihnen ausgehende Macht war nicht einmal annähernd so stark - sie flackerte und zitterte wie eine Kerzenflamme im Luftzug. Die Dunkelheit schien undurchdringlicher und näher zu sein - direkt triumphierend. Und er konnte Es riechen. Diesen Tunnel hinab, dachte er, und dann ist es nicht mehr allzuweit bis zu jener Tür mit dem Zeichen. Was war hinter jener Tür? Das ist das einzige, woran ich mich immer noch nicht erinnern kann. Ich erinnere mich, daß ich meine Finger versteift habe, damit sie nicht zitterten, und ich erinnere mich, die Tür auf gestoßen zu haben. Wenn ich mich sehr anstrenge, kann ich mich sogar an den Lichtstrom erinnern, der herausflutete, und daß dieses Licht fast lebendig zu sein schien, so als wäre es nicht einfach Licht, sondern zuckende fluoreszierende Schlangen. Ich erinnere mich an den Geruch, wie im Affenhaus eines großen Zoos, nur noch schlimmer. Und dann... nichts.
»Erinnert sich jemand v-von euch daran, w-w-was Es nun letztlich war?«
»Nein«, sagte Eddie.
»Ich glaube...«, begann Richie, und dann konnte Bill sich lebhaft vorstellen, wie er im Dunkeln den Kopf schüttelte. »Nein.«
»Nein«, sagte Beverly.
»Nein«, sagte Ben. »Dies ist das einzige, woran ich mich immer noch nicht erinnern kann. Was Es war... oder wie wir Es bekämpften.«
»Wir haben Chüd angewandt«, sagte Beverly. »Aber ich erinnere mich nicht, was das bedeutet.«
»Steht mir bei«, sagte Bill, »und ich w-w-werde euch b-b-beistehen.«
»Bill«, sagte Ben sehr ruhig. »Etwas kommt auf uns zu.«
Bill lauschte. Er hörte schlurfende, stolpernde Schritte, die sich ihnen im Dunkeln näherten... und er hatte Angst.
»Audra?« rief er... und wußte dabei schon, daß sie es nicht war.
Keine Antwort. Das schlurfende, stolpernde Etwas kam immer näher.
Bill zündete ein Streichholz an.
8. Derry, 5.00 Uhr
Das erste ungewöhnliche Geschehen in Derry ereignete sich genau um fünf Uhr morgens, zwei Minuten vor dem offiziellen Sonnenaufgang. Um zu verstehen, wie außergewöhnlich es war, mußte man zwei Tatsachen kennen, die Mike Hanion bekannt waren (der in tiefer Bewußtlosigkeit im Krankenhaus lag, als die Sonne aufging), und die beide die Grace Baptist Church betrafen, die seit 1897 an der Ecke Witcham Street und Jackson Street stand.
Ihr Kirchturm endete - wie alle protestantischen Kirchtürme in Neuengland - in einer wunderschönen weißen nadeiförmigen Spitze. Auf allen vier Seiten des Kirchturms waren Zifferblätter angebracht, und die Uhr selbst war im Jahre 1898 in der Schweiz hergestellt und mit dem Schiff nach Amerika gebracht worden. Stephen Bowie, ein Holz-, Papier- und Landbaron, der am West Broadway wohnte, schenkte die Uhr - die einschließlich Schiffsfracht mehr als 17000 Dollar gekostet hatte - der Kirche. Bowie konnte sich das gut leisten, und er war ein sehr frommer Kirchgänger, der 40 Jahre lang als Diakonus diente (gleichzeitig war er mehrere Jahre lang auch Vorsitzender der Ortsgruppe Derry der >Maine Legion of White De-cency<). Außerdem war er bekannt für seine frommen Laienpredigten am Muttertag - den er stets ehrerbietig als Mutter-Sonntag bezeichnete - und am Patriot's Day.
Vom Zeitpunkt ihres Einbaus an bis zum frühen Morgen des i. Junis 1985 war diese Uhr immer sehr genau gegangen und hatte getreulich jede volle und halbe Stunde geschlagen - mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen. Nach der Explosion der Kitchner-Eisenhütte hatte sie um 12 Uhr mittags nicht geschlagen; sie war bis halb eins stumm geblieben, hatte dann vorschriftsmäßig einmal geschlagen und auch zur vollen Stunde ganz korrekt einmal. Die Einwohner von Derry glaubten, daß Reverend Jollyn das Schlagwerk der Uhr um zehn angehalten hatte, zum Zeichen, daß die Kirche um die toten Kinder trauere, und Jollyn ließ sie in diesem Glauben, obwohl er selbst es besser wußte. Er hatte die Uhr nicht angehalten. Sie hatte einfach nicht geschlagen.