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»Was hörst du?« fragte sie Bill, während sie versuchte, ihre Augen überall gleichzeitig zu haben. Sie rechnete damit, irgendeine neue Überraschung aus der Dunkelheit herausrasen oder herausfliegen zu sehen. Rodan? Frankensteins Monster? Eine große Ratte mit orangefarbenen Ohren und scharfen Zähnen? Aber nichts geschah - da war nur der staubige Geruch der Dunkelheit, und in der Ferne das Rauschen von Wasser, so als füllten sich die Kanalrohre.

»Etwas ist n-n-nicht in Ordnung«, sagte Bill. »M-M-Mike...«

»Mike?« fragte Eddie. »Was ist mit Mike?«

»Ich habe es auch gefühlt«, sagte Ben. »Ist er... Bill, ist er gestorben?«

»Nein«, sagte Bill. Seine Augen waren ausdruckslos und verschwommen - seine ganze Unruhe drückte sich in seinem zuckenden Mund und in seinem angespannten Körper aus. »Er... Er...« Er schluckte laut. Seine Augen wurden plötzlich riesengroß. »Oh! O nein...!«

»Bill?« schrie Beverly erschrocken. »Bill, was ist los? Was...«

»G-G-G-Gebt euch die H-Hände!« rief Bill. »Sch-Sch-Schnell!«

Das Streichholz erlosch. Richie griff nach Bills einer Hand, Beverly nach der anderen. Sie streckte ihre freie Hand aus, und Eddie umfaßte sie schwach mit der Hand seines gebrochenen Armes. Ben packte seine andere Hand und schloß den Kreis, indem er Richie die Hand reichte.

»Verleih ihm Kraft!« rief Bill mit jener eigenartigen tiefen Stimme. »Verleih ihm Kraft, wer immer du auch sein magst, verleih ihm unsere Kraft! Jetzt! Jetzt! Jetzt!«

Und Beverly fühlte, wie etwas von ihnen ausging, auf Mike überging. Ihr Kopf rollte in einer Art Ekstase von einer Seite zur anderen, und das rauhe Pfeifen von Eddies Atem vermischte sich mit dem Brausen des Wassers in den Kanalrohren.

12.

»Jetzt«, sagte Mark Lamonica leise. Er seufzte wie ein Mann, der fühlt, daß er gleich einen Orgasmus haben wird.

Mike drückte immer und immer wieder auf die Klingel in seiner Hand. Er hörte sie im Zimmer der Krankenschwestern am Ende des Gangs läuten, aber niemand kam. In einer Art schrecklichem zweitem Gesicht erkannte er, daß die Schwestern dort herumsaßen, die Morgenzeitung lasen und Kaffee tranken; sie hörten sein Klingeln, reagierten aber nicht darauf; sie würden erst später in sein Zimmer kommen, wenn alles vorbei war, wenn Lamonica wieder verschwunden war, denn so war es in Derry schon immer gewesen. In Derry übersah man gewisse Dinge lieber... bis sie vorüber waren.

Mike ließ den Klingelknopf los.

Mark beugte sich über ihn; das Skalpell funkelte. Sein Amulett baumelte hin und her, während er die Decke zurückzog. Mikes Beine kamen zum Vorschein, das eine von gräulicher Farbe, das andere vom Knie bis zur Leiste verbunden.

»Genau hier«, flüsterte Mark und seufzte wieder.

Und Mike spürte plötzlich, wie eine Welle von Kraft ihn erfüllte - eine enorme Kraft, die wie ein Stromstoß durch seinen Körper schoß. Er versteifte sich im Bett, und seine Finger verkrampften sich. Er riß die Augen weit auf, stieß eine Art Grunzen aus, und jenes schreckliche Gefühl der Lähmung und Benommenheit fiel mit einem Schlag von ihm ab.

Seine rechte Hand schoß auf den Nachttisch zu, wo ein Plastikkrug und ein schweres Wasserglas standen. Seine Hand schloß sich um das Glas. Lamonica spürte die Veränderung; jenes verträumte, befriedigte Licht in seinen Augen machte einer plötzlichen wachsamen Verwirrung Platz. Er richtete sich etwas auf, und Mike stieß ihm das Glas mit aller Kraft ins Gesicht.

Lamonica schrie auf und taumelte rückwärts; das Skalpell fiel ihm aus der Hand. Er griff sich ans blutende Gesicht; das Blut lief ihm über die Hände auf seinen weißen Kittel.

Die Kraft verließ'Mike so plötzlich, wie sie gekommen war. Er starrte dumpf auf die Glasscherben auf seinem Bett und seinem Krankenhauspyjama und auf seine eigene blutende Hand. Er hörte auf dem Gang eilige Schritte, leises Quietschen von Kreppsohlen.

Jetzt kommen sie, dachte er. O ja, jetzt kommen sie. Und wer wird hier auftauchen, wenn sie wieder gegangen sind? Wer kommt als nächstes?

Als sie in sein Zimmer stürzten - die Krankenschwestern, die ruhig sitzengeblieben waren, als er verzweifelt geklingelt hatte -, schloß Mike die

Augen und betete, es möge vorüber sein. Er betete darum, daß seine Freunde jetzt irgendwo unter der Stadt sein sollten, daß ihnen nichts passieren sollte, und daß sie ihr Werk vollenden sollten.

Er wußte nicht genau, zu wem er eigentlich betete... aber er betete.

13.

»Ihm ist n-n-nichts p-passiert«, sagte Bill. Ben wußte nicht, wie lange sie im Dunkeln gestanden und sich bei den Händen gehalten hatten. Es kam ihm so vor, als sei von ihnen, von ihrem Kreis, etwas ausgegangen und dann wieder zurückgekommen. Aber er wußte nicht, wohin dieses Etwas - wenn es überhaupt existierte - verströmt war, was es bewirkt hatte.

»Bist du sicher, Big Bill?« fragte Richie.

»J-J-Ja.« Bill ließ Richies und Bevs Hände los. »Aber w-wir m-m-müssen die S-S-Sache so schnell wie m-m-möglich zu Ende bringen. K-K-Kommt.«

Sie gingen weiter; Richie oder Bill zündeten von Zeit zu Zeit Streichhölzer an. Wir haben keine einzige Waffe bei uns, dachte Ben, noch nicht einmal ein Blasrohr. Aber auch das muß wohl so sein. Chüd. Was bedeutet das? Was war es genau? Und welche endgültige Gestalt hatte Es nun eigentlich? Selbst wenn wir Es damals nicht getötet haben, so haben wir Es doch verletzt. Wie haben wir das nur geschafft?

Der Raum, den sie durchquerten - als Tunnel konnte man ihn nicht mehr bezeichnen -, wurde immer größer. Ihre Schritte hallten. Ben erinnerte sich an den Geruch: jenen starken, vitalen Geruch wie in einem Zoo. Er bemerkte, daß die Streichhölzer jetzt nicht mehr notwendig waren - es gab Licht oder doch etwas Ähnliches: einen gespenstischen Schimmer, der immer heller wurde. In dieser Beleuchtung sahen seine Freunde wie wandelnde Leichen aus. »Wand voraus, Bill«, sagte Eddie.

»Ich w-w-weiß.«

Ben bekam rasendes Herzklopfen. Er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund, und sein Kopf schmerzte. Er fühlte sich langsam und ängstlich ... er fühlte sich fett.

»Die Tür!« flüsterte Beverly.

Ja, da war sie. Einst, vor 27 Jahren, hatten sie alle sieben nur die Köpfe etwas einziehen müssen, um durch diese Tür zu kommen. Jetzt würden sie sich halb zusammenklappen oder aber auf allen vieren hindurchkriechen müssen. Sie waren erwachsen geworden - hier war der Beweis dafür.

Bens Puls am Hals und an den Handgelenken fühlte sich heiß und blutig an; sein Herz flatterte hektisch. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

Grelles grünlichgelbes Licht flutete unter der Tür hindurch; es ergoß sich in dickem gewundenem Strahl durch das kunstvoll verzierte Schlüsselloch der alten Tür. Das Zeichen war an der Tür, und wieder sah jeder von ihnen etwas anderes in diesem eigenartigen Symbol.

Für Beverly war es Toms Gesicht. Bill erkannte darin Audras vom Rumpf abgetrennten Kopf mit leeren Augen, die ihn schrecklich anklagend anstarrten. Eddie sah Henry Bowers. Richie sah das bärtige Gesicht eines entarteten Paul Bunyan, dessen Augen zu mordlustigen Schlitzen zusammen-

gekniffen waren. Und Ben sah einen grinsenden Totenschädel über zwei gekreuzten Knochen - das Symbol für Gift.

»Bill, sind wir stark genug?« fragte Ben. »Können wir es schaffen?«

»Ich w-w-weiß es nicht«, sagte Bill.

»Und was, wenn die Tür verschlossen ist?« fragte Beverly mit dünner Stimme. Toms Gesicht schien sie zu verhöhnen.

»Das ist sie nicht«, erwiderte Bill. »Orte wie dieser sind n-n-nie verschlossen.« Er legte die steifen Finger seiner rechten Hand auf die Tür - er mußte sich dazu hinabbeugen - und drückte dagegen. Sie flog auf, und zuckendes, strudelndes gelbgrünes Licht flutete heraus. Jener zooartige Geruch hüllte sie ein, der Geruch zur Gegenwart gewordener Vergangenheit.