(du machst deine Sache gut, mein Sohn, aber sehr bald schon wird es zu
spät sein)
Es hat Angst! Angst vor mir! Angst vor uns allen!
... er schlitterte, schlitterte immer noch mit rasender Geschwindigkeit dahin, und irgendwo vor ihm war eine Wand, er spürte sie, spürte sie in der Dunkelheit, die Wand am Rande des Kontinuums, und dahinter war seine andere Gestalt, dort waren die Totenlichter...
(sprich nicht mit mir, mein Sohn, und führe auch keine Selbstgespräche - Es wird dich bald abschütteln, beiß fest zu, wenn du es wagst, wenn du tapfer sein kannst, wenn du dich um deine Freunde sorgst, wenn du für sie einstehen willst... beiß fest zu, mein Sohn!)
Und Bill Denbrough biß fest zu - nicht mit seinen Zähnen, sondern mit Zähnen seines Geistes.
Er senkte seine Stimme um eine ganze Tonlage, so daß sie sich nicht mehr wie seine eigene anhörte (er ahmte die Stimme seines Vaters nach, obwohl er sich dessen sein ganzes Leben lang nicht bewußt sein würde; manche Geheimnisse werden niemals offenbart, und vermutlich ist das auch am besten), holte tief Luft und rief:
»IM FINSTERN FÖHRENWALD, DA WOHNT EIN WAHRER MEISTER, DER FICHT GANZ FURCHTLOS KALT SOGARNOCH GEGEN GEISTERUND JETZT LASS MICH LOS!«
Im Geiste hörte er Es schreien; es war ein Schrei frustrierter, ungeduldiger Wut, aber aus diesem Schrei waren auch Angst und Schmerzen herauszuhören. Es war nicht daran gewöhnt, seinen Willen nicht durchzusetzen; so etwas war ihm in seinem ganzen langen Dasein noch nicht widerfahren, und Es hatte etwas Derartiges bisher auch für völlig undenkbar, für völlig unmöglich gehalten.
Bill fühlte seine wilden Zuckungen, fühlte, wie Es sich schüttelte, wie Es versuchte, ihn abzustoßen - sich von ihm zu befreien.
»IM FINSTERN FÖHRENWALD, DA WOHNT EIN WAHRER MEISTER, HABE ICH
gesagt! lass mich los! Du musst es tun! ich befehle es dir! ich verlange
ES VON DIR!«
Wieder schrie Es auf, und sein Schmerz war jetzt merklich stärker geworden - teilweise vielleicht auch deshalb, weil Es zwar sein ganzes langes, langes Dasein damit zugebracht hatte, Schmerz zuzufügen, sich vom Schmerz zu ernähren, aber bisher Schmerz niemals als einen Teil seiner selbst erfahren hatte.
Aber Es versuchte weiterhin eigensinnig, ihn abzuschütteln, ihn wegzustoßen, um doch noch den Sieg davonzutragen, wie Es ihn bisher immer davongetragen hatte. Es wollte ihn abschütteln, aber Bill spürte, daß sich die Geschwindigkeit, mit der er durch die Leere schoß, verlangsamt hatte, und ein groteskes Bild drängte sich ihm auf: seine Zunge, mit jenem lebendigen Speichel überzogen, lang herausgestreckt wie ein dickes Gummiband, rissig, blutend. Er sah sich selbst, wie er sich an dieser Zungenspitze festgebissen hatte und seine Zähne allmählich immer tiefer hineingrub, er sah sein Gesicht, das von seinem schwarzen Blut überströmt war, sah sich in seinem bestialischen Gestank nach Fäulnis und Verwesung fast erstik-ken, sah sich aber dennoch weiter zubeißen, irgendwie, während Es in seinem blinden Schmerz und seiner rasenden Wut versuchte, sich von ihm zu befreien.
Chüd, dies ist Chüd, halt aus, sei standhaft, sei tapfer, sei treu, steh für deinen Bruder ein, steh für deine Freunde ein, glaube, glaube an all die Dinge, an die du einmal geglaubt hast: daß es so etwas wie das Gute gibt; daß der Polizist, dem du erzählst, du hättest dich verirrt, dafür sorgen wird, daß du sicher nach Hause kommst; daß irgendwo hinter dem Nordpol Santa Claus wohnt, der zusammen mit den Elfen Spielzeuge herstellt; daß es Captain Midnight wirklich geben könnte, o ja; daß deine Mutter und dein Vater dich wieder lieben werden; daß Tapferkeit möglich ist; daß auch Liebe möglich ist; und daß dir alle Wörter immer leicht und glatt von der Zunge gehen werden - keine Verlierer mehr, kein Kauern mehr in einer Erdgrube mit der hochtrabenden Bezeichnung Klubhaus, kein Weinen mehr in Georgies Zimmer, weil du ihn nicht retten konntest; glaube an dich selbst, glaube an die Glut dieses Verlangens...
Er begann plötzlich in der Finsternis zu lachen, nicht hysterisch, sondern in äußerstem verzücktem Staunen,
»O ja, ich glaube an all diese dinge!« schrie er, und es stimmte: Sogar mit seinen elf Jahren hatte er schon beobachtet, daß die Dinge zu einem geradezu phänomenalen Prozentsatz ein gutes Ende nahmen. Um ihn herum wurde es Licht. Er breitete die Arme aus, über den Kopf hinweg. Er wandte sein Gesicht empor, und plötzlich spürte er, wie eine riesige Welle von Macht ihn durchflutete.
Er hörte Es wieder schreien... und plötzlich fühlte er sich zurückgezogen, flog denselben Weg, nur in entgegengesetzter Richtung, und hielt sich dabei immer noch jenes Bild vor Augen, das sich ihm vorhin aufgedrängt hatte: er selbst, der seine Zähne tief in das seltsame Fleisch seiner Zunge gegraben hatte, der sie fest zusammenbiß, während er in seinem schwarzen Blut zu ersticken drohte. Er flog dahin, Kopf nach vorne, Beine nach hinten, und die Schnürsenkel seiner schmutzverkrusteten Schuhe flatterten wie Wimpel an einem windigen Tag, und der Wind dieses leeren Raumes sauste ihm in den Ohren.
Er wurde zurückgezogen; er flog erneut an der Schildkröte vorbei und sah, daß sie ihren Kopf wieder in den Panzer eingezogen hatte; ihre Stimme kam von dort zu ihm, hohl und etwas verzerrt, so als sei sogar der Panzer, in dem sie lebte, ein Brunnen, der Ewigkeiten tief war:
(nicht schlecht, mein Sohn,, aber ich würde das Werk jetzt vollenden. Laß Es nicht entkommen. Energie verflüchtigt sich häufig, und was man vollbringen kann, wenn man elf Jahre alt ist, kann man später oft nie mehr vollbringen)
Die Stimme der Schildkröte wurde schwächer, immer schwächer, verklang. Da war nur noch die an ihm vorbeifliegende Dunkelheit... und dann die gähnende Öffnung eines riesigen Tunnels... Gerüche nach Alter und Verwesung... Spinnweben, die an seinem Gesicht vorbeistreiften wie vermoderte Seidensträhnen in einem Spukhaus... schimmelige Ziegel... Kreuzungen, die jetzt alle dunkel waren, denn die Mond-Ballons waren erloschen, und Es schrie und schrie:
(laß mich los, laß mich los, ich werde verschwinden und niemals mehr zurückkehren, laß mich los, ES SCHMERZT so, ES SCHMERZT, ES SCHMERRRR)
»Ficht ganz furchtlos kalt!« schrie Bill in einer Art Ekstase. Er sah vor sich Licht, aber dieses Licht wurde zusehends schwächer, flackerte wie große Kerzen, die fast heruntergebrannt sind... und für den Bruchteil einer Sekunde sah er sich selbst und die anderen in einer Reihe nebeneinander stehen und sich bei den Händen halten; Eddie stand auf einer Seite neben ihm, Richie auf der anderen. Er sah sich mit weit zurückgeworfenem Kopf zu der spinne emporstarren, die wilde Zuckungen vollführte wie ein Derwisch, deren Beine gegen den Boden hämmerten, aus deren Stachel Gift herabtropfte.
Es schrie; Es lag im Todeskampf.
Das glaubte Bill aufrichtig.
Und dann wurde er zurückgeworfen, mit solcher Wucht, daß seine Hände aus Richies und Eddies Griff gerissen wurden, daß er auf die Knie fiel und über den Boden schlitterte, bis zum Rand des Spinnennetzes. Er griff instinktiv nach einem der Spinnfäden, um Halt zu finden, und augenblicklich wurde diese Hand taub, so als hätte ihm jemand eine NovocainSpritze verabreicht. Der Spinnfaden war so dick wie ein Kabel oder ein Tau.
»Hände weg, Bill!« brüllte Ben, und Bill riß seine Hand zurück; unterhalb der Finger kam rohes Fleisch zum Vorschein, und die Wunde füllte sich mit Blut. Er taumelte auf die Beine und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der spinne zu.