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Die Kirchturmuhr der Grace Baptist Church hatte weder um sechs noch um sieben Uhr geschlagen. Um 7.20 Uhr schlug die Uhr dreizehn Mal. Eine Minute später schoß ein blauweißer Blitz in den Kirchturm. Heather Libby, die Pfarrersfrau, schaute gerade in diesem Augenblick zufällig aus dem Küchenfenster des Pfarrhauses, und sie sagte später, der Kirchturin sei explodiert, als hätte jemand ihn mit Dynamit geladen<. Vom Regen vieler Jahre weißgewaschenes Holz und Balkensplitter und Uhrwerkteile aus der Schweiz regneten auf die Straße herab. Der ausgezackte untere Teil des Kirchtums brannte noch kurze Zeit, aber das Feuer wurde rasch vom Wolkenbruch gelöscht, der inzwischen die Ausmaße tropischer Regenfälle angenommen hatte.

Die Straßen, die hügelabwärts zur Innenstadt führten, hatten sich in Sturzbäche verwandelt. Unter der Main Street brauste und donnerte der Kanal mit solcher Stärke, daß die Menschen unbehagliche Blicke tauschten.

Um 7.25 Uhr, als das ungeheure Krachen des explodierenden Kirchturms noch in ganz Derry widerhallte, sah der Pförtner, der jeden Morgen außer sonntags in >Wally's Spa< kam, um die Kneipe zu putzen, etwas, das ihn schreiend auf die Straße hinausstürzen ließ. Dieser Bursche - seit seinem ersten Semester an der University of Maine vor nunmehr elf Jahren ein Alkoholiker - erhielt für seine Arbeit nur eine kleine Geldsumme - sein eigentlicher Lohn bestand darin, den gesamten vom Vorabend in den Bierfäßchen unter der Bartheke übriggebliebenen Inhalt konsumieren zu dürfen. Richie Tozier hätte sich eventuell an ihn erinnert; er hieß Vincent Caruso Taliendo und hatte bei seinen Klassenkameraden den Spitznamen >Boogers< gehabt. Als er an diesem apokalyptischen Morgen den Fußboden der Kneipe aufwischte und sich dabei immer näher zur Theke vorarbeitete, sah er, wie sich alle sieben Bierfäßchen nach vorne neigten, so als würden sieben unsichtbare Hände an den Zapfhähnen ziehen. In Strömen goldweißen Schaums floß Bier aus ihnen heraus. Vince rannte auf sie zu; er dachte weder an Gespenster noch an Phantome, sondern nur daran, daß ihm sein Morgenquantum an Alkohol durch die Lappen ging. Doch dann blieb er plötzlich schreckensstarr stehen, riß die Augen auf und stieß einen entsetzten Schrei aus, der in der leeren, nach Bierdunst stinkenden Kneipe laut widerhallte. Statt Bier floß plötzlich Blut aus den Hähnen. Es sprudelte in die Chromrinnen, lief über und rann an der Seitenfläche der Bar herunter. Gleich darauf begannen aus den Zapfhähnen Haare und Fleischfetzen hervorzukommen. Taliendo starrte wie gelähmt darauf; er hatte nicht einmal mehr die Kraft zu schreien. Dann explodierte eines der Bierfäßchen mit dumpfem, tonlosem Knall. Alle Schranktüren unter der Bar flogen weit auf. Grünlicher Rauch quoll aus ihnen hervor. >Boogers< hatte genug gesehen. Schreiend rannte er auf die Straße, die sich inzwischen in einen flachen Kanal verwandelt hatte. Er fiel auf den Hintern, stand auf und warf einen entsetzten Blick über die Schulter hinweg. Eines der Kneipenfenster flog klirrend heraus. Glasscherben pfiffen Vince um den Kopf. Einen Moment später explodierte auch das zweite Fenster. Vince blieb wie durch ein Wunder auch diesmal unverletzt ... aber er faßte urplötzlich den Entschluß, seine Schwester in Eastport zu besuchen. Er machte sich sofort auf den Weg, und es wäre eine Geschichte für sich, wollte man seine Mühsale schildern, bis die Stadtgrenze Derrys endlich hinter ihm lag... aber schließlich gelang es ihm doch, aus der Stadt herauszukommen - ein Glück, das nicht allen vergönnt wurde.

Aloysius Nell, der vor kurzem 71 geworden war, saß mit seiner Frau im Wohnzimmer ihres Hauses in der Strapham Street und betrachtete den Sturm, der Derry verwüstete. Um 7.32 Uhr erlitt er einen tödlichen Herzschlag. Seine Frau erzählte ihrem Bruder eine Woche später, daß Aloysius seine Kaffeetasse auf den Teppich fallen ließ, sich mit weit aufgerissenen Augen ganz aufrecht hinsetzte und schrie: »Aber, aber, mein liebes Mädchen! Was zum Teufel hast du vor? Laß sofort diesen Blödsinn, sonst kannst du was erleb...« Dann stürzte er vom Stuhl und zerbrach durch sein Gewicht die Tasse. Maureen Nell, die genau wußte, wie schlecht es in den letzten drei Jahren um sein Herz bestellt war, begriff sofort, daß es für ihn keine Rettung mehr gab, und nachdem sie ihm den Kragen gelockert hatte, rannte sie zum Telefon, um Vater McDowell anzurufen. Aber das Telefon funktionierte nicht. Es gab nur komische Geräusche von sich, die Ähnlichkeit mit einer Polizeisirene hatten. Und deshalb versuchte sie - obwohl sie wußte, daß es vermutlich eine Blasphemie war, für die sie sich vor dem heiligen Petrus würde verantworten müssen -, ihren Mann selbst mit den Sterbesakramenten zu versehen. Sie war zuversichtlich - wie sie ihrem Bruder erzählte -, daß Gott sie verstehen würde, selbst wenn das beim heiligen Petrus nicht der Fall sein würde. Aloysius war ein guter Ehemann und ein guter Mensch gewesen, und wenn er zuviel getrunken hatte, so war das einfach sein irisches Erbe gewesen.

Um 7.49 Uhr erschütterte eine ganze Serie von Explosionen das Einkaufszentrum Derrys, das auf dem Gelände der Kitchner-Eisenhütte errichtet worden war. Niemand wurde getötet; das Einkaufszentrum öffnete erst um 10 Uhr, und auch die fünf Pförtner mußten erst um 8 Uhr ihren Dienst antreten (und an einem Morgen wie diesem wäre ohnehin kaum einer von ihnen aufgetaucht). Eine Untersuchungskommission verwarf später die Möglichkeit einer Sabotage und vertrat - wenngleich nicht allzu überzeugend - die Ansicht, die Explosionen seien durch Wasser verursacht worden, das irgendwie in die elektrischen Anlagen des Einkaufszentrums vorgedrungen sei.

Aber wie dem auch sein mochte - jedenfalls würde lange Zeit niemand mehr in Derrys Einkaufszentrum einkaufen können. Eine Explosion zerstörte Zales Juweliergeschäft vollständig. Diamantringe, Perlenketten, Armreifen, Trauringe und Seiko-Digitaluhren flogen wie funkelnde Hagelkörner in alle Richtungen. Eine Musikbox wurde in den Brunnen vor J. C. Penney's geschleudert, wo sie noch kurz eine ziemlich verzerrte Wiedergabe der Titelmelodie aus >Love Story< zum besten gab, bevor sie verstummte. Dieselbe Explosion riß ein Loch ins >Baskin-Robbins< nebenan und machte aus den 31 verschiedenen Eissorten eine Eissuppe, die als schmutzige Brühe über den Boden rann. Im >Sears< wurde durch die Explosion ein Stück Dach losgerissen, und der Sturmwind wirbelte es durch die Lüfte wie einen Papierdrachen; es stürzte 1000 Yards entfernt in das Silo eines Farmers namens Brent Kilgallon. Kilgallons sechzehnjähriger Sohn rannte mit der Kodak-Kamera seiner Mutter aus dem Haus und machte ein Foto. Der >National Enquirer< kaufe es für 60 Dollar, die dem Jungen zwei neue Reifen für sein Motorrad einbrachten. Eine dritte Explosion zerstörte das >Hit or Miss< und schleuderte brennende Röcke, Jeans und Unterwäsche auf den überfluteten Parkplatz. Und eine letzte Explosion riß die Filiale der >Derry Farmer's Trust< auf wie eine Keksschachtel. Auch vom Dach dieser Bank wurde ein Stück losgerissen. Die Alarmanlage begann zu heulen und verstummte erst vier Stunden später, nachdem die unabhängige Stromversorgung des Sicherheitssystems abgestellt wurde. Darlehensverträge, Einzahlungsformulare, Kassenzettel und alles mögliche andere Bank-Zubehör flogen gen Himmel und wurden vom Wind davongetragen. Und Geldscheine: hauptsächlich Zehner und Zwanziger, großzügig unterstützt von Fünfern und hin und wieder noch verschönert durch Fünfziger und Hunderter. Mehr als 75000 Dollar wirbelten nach Aussagen der Bankangestellten durch die Lüfte... später, nach zahlreichen Personalumbeset-zungen im Vorstand, wurde - selbstverständlich nur streng inoffiziell - zugegeben, daß es eher so an die 200000 Dollar gewesen waren. Eine Frau in Haven Village fand einen Fünfzig-Dollar-Schein auf der Fußmatte vor ihrer Hintertür, zwei Zwanziger in ihrem Vogelhäuschen und sogar einen Hunderter, der an einer Eiche auf ihrem Hinterhof klebte. Ihr Mann und sie bezahlten mit diesem sozusagen vom Himmel gefallenen Geld zwei Raten für ihren Bombadier Skidoo.