Dr. Halewagon, ein Arzt im Ruhestand, der seit fast 50 Jahren am West Broadway wohnte, kam um 8 Uhr ums Leben. Dr. Halewagon rühmte sich gern damit, daß er in der zweiten Hälfte dieser 50 Jahre tagtäglich den gleichen Spaziergang gemacht hatte, von seinem Haus um die Fairmount Ter-race herum zur Grundschule und zurück. Nichts konnte ihn von seinem Spaziergang abhalten, nicht Regen noch Hagel, nicht Graupelschauer noch Schnee, kein heulender Nordostwind, keine klirrende Kälte. Auch an diesem Morgen machte er sich trotz der besorgten Einwände seiner Haushälterin auf den Weg. Seine letzten Worte, die er über die Schulter hinweg sagte, während er sein Haus durch den Vordereingang verließ und seinen Hut energisch bis zu den Ohren herunterzog, waren: »Seien Sie doch nicht so gottverdammt töricht, Hilda. Das ist doch weiter nichts als ein bißchen Regen. Sie hätten mal das Unwetter von 1957 sehen sollen! Das war ein Sturm!« Als Dr. Halewagon auf dem Rückweg wieder in den West Broadway einbog, flog ein Kanalschachtdeckel vor dem Haus der Muellers plötzlich in die Luft wie die Nutzlast einer Redstone-Rakete. Er enthauptete Dr. Halewagon so rasch und gründlich, daß der Arzt noch drei Schritte machte, bevor er tot auf dem Gehweg zusammenbrach.
Und die Windstärke nahm immer noch zu.
7. Unter der Stadt/16.15 Uhr
Eddie führte sie eine oder auch anderthalb Stunden durch die dunkler gewordenen Tunnels, bevor er in einem eher fassungslosen als ängstlichen Ton zugab, daß er sich zum erstenmal in seinem Leben verirrt hatte.
Sie konnten immer noch das dumpfe Brausen von Wasser in den Rohren hören, aber die Akustik in all den Tunnels war so eigenartig, daß man unmöglich sagen konnte, ob diese Wassergeräusche nun von vorne oder hinten, von oben oder unten kamen. Sie hatten keine Streichhölzer mehr. Sie irrten im Dunkeln umher.
Bill war sehr beunruhigt. Er mußte immer wieder an die Unterhaltung denken, die er mit seinem Vater in dessen Werkstatt geführt hatte. Niemand weiß genau, wie diese verdammten Rohre verlaufen... ein Teil der Planzeichnungen ist verschwunden... Wenn alles funktioniert, spielt das natürlich keine Rolle. Wenn aber etwas kaputt ist, werden drei oder vier arme Leutchen vom städtischen Wasserwerk losgeschickt, um herauszufinden, welche Pumpe versagt hat oder wo etwas verstopft ist... Es ist dunkel dort unten, und es stinkt, und es gibt Ratten. Das sind alles gute Gründe, um wegzubleiben, der Hauptgrund ist aber, daß man sich dort unten leicht verirren oder sogar verlorengehen kann. So was ist alles schon passiert.
So was ist alles schon passiert. So was ist alles schon passiert. Schon passiert.
Er spürte Panik in sich aufsteigen und versuchte, sie zu bekämpfen. Es gelang ihm einigermaßen, aber sie lauerte im Hintergrund wie etwas Lebendiges, das kratzt und jault und heult und versucht, sich zu befreien. Zu dieser Panik trug nicht zuletzt auch die bohrende, nicht zu beantwortende Frage bei, ob sie Es nun getötet hatten oder nicht. Richie, Mike und Eddie waren der Ansicht, Es sei tot. Aber Bevs ängstlicher, zweifelnder Gesichtsausdruck hatte Bill großes Unbehagen bereitet, und noch mehr vielleicht Stans Augen, als sie seine Behausung durch die kleine Tür wieder verlassen und sich von den unheimlichen Geräuschen des in sich zusammenfallenden Spinnennetzes entfernt hatten.
»Und was machen wir jetzt?« fragte Stan. Bill hörte das angsterfüllte Beben in Stans Stimme und wußte, daß die Frage hauptsächlich an ihn gerichtet war.
»Ja«, sagte Ben. »Was? Verdammt, ich wünschte, wir hätten eine Taschenlampe. .. oder wenigstens eine Ke... Kerze.« Und Bill glaubte, bei dem letzten Wort ein mühsam unterdrücktes Schluchzen wahrgenommen zu haben. Das machte ihm mehr Angst als alles andere; obwohl Ben darüber sehr erstaunt gewesen wäre, hielt Bill den fetten Jungen für äußerst findig und ausgeglichen; er war zuverlässiger als Richie und verlor nicht so leicht die Nerven wie der übersensible Stan. Wenn sogar Ben einer Panik nahe war, dann konnte es leicht passieren, daß sie alle davon erfaßt wurden ... und dann würden sie nie mehr hier herausfinden. Ihn selbst quälte nicht einmal so sehr der Gedanke an das Skelett des Mannes von den Wasserwerken, sondern die Erinnerung an Tom Sawyer und Becky Thatcher, die sich in der McDougal-Höhle verirrt hatten. Sosehr er auch versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen - er tauchte immer wieder auf.
Etwas anderes beunruhigte ihn auch noch, doch er war viel zu erschöpft, um richtig erkennen zu können, was es war. Vieleicht war diese Tatsache aber auch gerade deshalb so schwer faßbar, weil sie im Prinzip sehr einfach und logisch war: Sie fielen sozusagen auseinander. Das enge Band, das sie diesen ganzen Sommer lang zusammengeschweißt hatte, lockerte sich bedenklich. Sie hatten Es gestellt und besiegt, ob Es nun - wie Richie und Eddie glaubten - tot war, oder ob Es so schwer verletzt war, daß Es hundert oder tausend oder zehntausend Jahre schlafen würde. Sie hatten ihm ins Auge geschaut, hatten Es ohne irgendeine seiner Masken gesehen, und Es war grauenhaft gewesen - grauenhaft, o ja! -, aber nachdem sie Es erst einmal gesehen hatten, war Es seiner mächtigsten Waffe beraubt gewesen. Schließlich hatten sie alle schon viele Spinnen gesehen. Es waren unheimliche Geschöpfe, und er vermutete, daß keiner von ihnen je wieder eine Spinne würde sehen können
(wenn wir hier überhaupt jemals wieder herauskommen) ohne einen unbewußten Schauder zu verspüren. Aber letzten Endes war eine Spinne eben doch nur eine Spinne. Und vielleicht gab es - wenn die Masken des Schreckens erst einmal abgelegt waren - nichts, womit der menschliche Geist nicht fertig werden könnte. Das war ein aufmunternder Gedanke. Vielleicht konnte der menschliche Geist alles irgendwie bewältigen, abgesehen von (den Totenlichtern)
von dem, was dort draußen in der Unendlichkeit war... jenem anderen
Teil von ihm, und wenn sie das körperliche ich tatsächlich getötet hatten, so war vielleicht sogar jenes unvorstellbare lebendige Licht an der Schwelle zum Makrokosmos tot oder lag im Sterben. Aber die Totenlichter und sein Flug durch den leeren Raum verblaßten bereits, und er konnte sich nur noch verschwommen daran erinnern. Doch das war jetzt auch nicht weiter wichtig. Was ihn unterbewußt quälte, ohne daß er diese Unruhe beim Namen hätte nennen können, war das Gefühl, daß ihre Zusammengehörigkeit, ihre verschworene Gemeinschaft zerfiel... sie zerfiel, und sie waren immer noch im Dunkeln tief unter der Erde. Jener andere war, durch ihre Freundschaft, vielleicht imstande gewesen, sie mehr als nur Kinder sein zu lassen. Aber nun wurden sie wieder zu ängstlichen Kindern. Bill spürte es, und die anderen spürten es auch.
»Was jetzt, Bill?« fragte nun auch Richie gerade heraus.
»Ich w-w-weiß n-n-n-nicht«, sagte Bill. Er stotterte wieder. Er hörte es, sie alle hörten es, und er stand im Dunkeln, spürte die zunehmende Panik und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis jemand - vermutlich Stan - ihm vorwerfen würde: Warum weißt du es nicht? Du hast uns schließlich in diese Lage gebracht!
»Und was ist mit Henry?« fragte Mike unbehaglich. »Ob er immer noch irgendwo hier unten ist?«
»O Gott«, stöhnte Eddie. »Henry hatte ich total vergessen. Bestimmt ist er noch hier, ganz bestimmt, er hat sich vermutlich genauso verirrt wie wir, und wir könnten jederzeit in ihn hineinlaufen... O Bill, hast du denn gar keine - keine einzige - Idee? Dein Vater arbeitet doch hier! Hast du denn wirklich keine einzige Idee?«
Bill lauschte dem fernen Donnern des Wassers und versuchte nachzudenken. Aber ihm fiel nichts ein. Nicht das geringste.