»Ich habe eine Idee«, sagte Beverly ruhig.
Bill hörte im Dunkeln ein Geräusch, das er sich im ersten Augenblick nicht erklären konnte. Ein leises Knistern. Dann folgte ein leichter erkennbares Geräusch - ein Reißverschluß wurde geöffnet. Was? dachte er, und dann begriff er, was los war. Beverly zog sich aus unerfindlichen Gründen aus.
»Was machst du?« fragte Richie mit erstaunter, zitternder Stimme.
»Ich weiß etwas«, sagte Beverly, und es kam Bill so vor, als sei ihre Stimme plötzlich viel erwachsener. »Ich weiß etwas - mein Vater hat mich darauf gebracht. Ich glaube, ich weiß, wie unsere engen Bande wieder zusammengeknüpft werden können. Und nur auf diese Weise können wir hier je wieder herauskommen.«
»Was?« fragte Ben verwirrt und fast erschrocken. »Wovon redest du eigentlich?«
»Etwas, das uns wieder zusammenbringen wird«, erklärte sie. »Das uns für immer zusammenbringen wird. Etwas, das zeigen wird...«
»N-N-Nein, Beverly!« rief Bill, der plötzlich begriffen hatte.
»... das zeigen wird, daß ich euch alle liebe«, fuhr sie fort, ohne ihn zu beachten, »daß ihr alle meine Freunde seid.«
»Wovon red...«, begann Mike.
Bev schnitt ihm ganz ruhig das Wort ab. »Wer ist der erste?« fragte sie.
Bev hielt Eddie in den Armen, und Richie beugte sich über sie; sie versuchten, den irrsinnig heftigen Blutstrom zum Stillstand zu bringen. Eddies Gesicht war bleich und regungslos. Plötzlich riß Bill Richie so heftig hoch, daß dieser fast das Gleichgewicht verloren hätte.
»Bill, ich glaube, er stirbt, sein Arm, sein Arm, Es hat seinen Arm verschlungen ...«
»Es entkommt uns wieder!« brüllte Bill ihm zu. Seine Lippen und sein Kinn waren blutverkrustet; ein Blutfaden führte von seinem rechten Ohr zum Backenknochen. »K-K-Komm! B-Ben, du und ich - diesmal werden wir ihm endgültig den Garaus machen!«
»Bill...« Bill schien nicht zu verstehen, was los war. Richie mußte es ihm erklären. »Eddie... wir brauchen möglichst schnell einen Arzt... eine Aderpresse...«
»Geh, Richie«, sagte Beverly. Sie bettete Eddies Kopf auf ihren Schoß und schloß ihm die Augen. »Geh! Wenn er ganz vergeblich gestorben ist, wenn ihr Es entkommen laßt, wenn Es in 27 oder 54 Jahren wiederkehrt, dann bringe ich euch um, das schwöre ich euch. Und falls ich dann nicht mehr leben sollte, werde ich euch als Geist heimsuchen. Geh jetzt!«
Richie betrachtete sie einen Augenblick lang unentschlossen. Dann bemerkte er, daß ihre Gesichtszüge verschwammen, daß sie nur noch als bleicher Schatten zu erkennen war. Das Licht wurde jetzt rasch schwächer. Das gab für ihn den Ausschlag. »Okay«, sagte er zu Bill. »Verfolgen wir Es!«
Ben stand hinter dem Spinnennetz, das sich nun wieder aufzulösen begann. Auch er hatte die Gestalt gesehen, die hoch oben im Netz hing, und er hoffte inbrünstig, daß Bill nicht hochblicken würde.
Aber als das Netz zu zerreißen begann, schaute Bill hoch.
Er sah Audra, die sich wie in einem uralten, nur noch ruckweise fahrenden Aufzug nach unten bewegte. Sie fiel zehn Fuß tief, blieb hängen, baumelte wie ein Pendel am Netz hin und her, fiel dann abrupt weitere 15 Fuß in die Tiefe. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich dabei überhaupt nicht. Ihre großen Augen waren völlig ausdruckslos. Ihre nackten Füße wippten. Die Haare hingen ihr über die Schultern. Ihr Mund war halb geöffnet.
»audra!« schrie Bill.
»Bill, komm mit!« brüllte Richie ihn an.
Überall um sie herum fielen jetzt einzelne Fetzen des Spinnennetzes herab, schlugen auf dem Boden auf und zerliefen dort. Richie packte Bill um die Taille und zog ihn vorwärts.
»Los, Bill! Komm! Schnell!«
»Das ist Audra!« rief Bill verzweifelt. »D-D-Das ist Audra!«
»Ist mir scheißegal, auch wenn's der Papst höchstpersönlich wäre«, erwiderte Richie grimmig. »Eddie ist tot, und wir werden Es jetzt töten, falls Es noch lebt. Diesmal werden wir das Werk vollenden, Big Bill. Entweder sie lebt, oder sie ist tot. Und jetzt komm!«
Bill stand weiterhin wie angewurzelt da, doch dann stiegen Bilder vor seinem geistigen Auge auf, Bilder all der vielen toten Kinder; sie schienen in seinem Kopf umherzuwirbeln wie verlorengegangene Fotos aus Georgies
Album. Schulfreunde. »Okay«, sagteer. »M-M-Möge Gott mir v-v-verzei-hen.«
Er und Richie rannten unter dem Netz hindurch, das jetzt schon bedrohlich tief durchhing. Sekunden später fielen seine unteren Teile vollends herab, und die Spinnfäden begannen auf dem Boden zu zerfließen. Ben hatte auf der anderen Seite des Netzes auf sie gewartet, und zu dritt nahmen sie seine Verfolgung auf, während Audra immer noch etwa 50 Fuß über dem Steinboden im sich auflösenden Netz hing, von Spinnfäden umgarnt.
9. Ben
Sie folgten der Spur seines schwarzen Blutes - öligen Lachen, aus denen das lebendige Blut sich in die Risse und Ritzen zwischen den Steinen schlängelte. Als der Fußboden dann aber allmählich anstieg, auf eine halbkreisförmige schwarze Öffnung ganz am Ende des riesigen Raumes zu, sah Ben etwas Neues: eine Spur aus Eiern. Sie waren schwarz, hatten eine rauhe Schale und etwa die Größe von Straußeneiern. Ein unheimliches wächsernes Licht drang aus ihrem Innern, und Ben stellte fest, daß sie halb durchsichtig waren, daß schwarze Schatten sich darin bewegten.
seine Kinder, dachte er, und ihm drehte sich fast der Magen um. seine verderbten Kinder. Gott! O Gott!
Richie und Bill waren ebenfalls stehengeblieben. Sie starrten die Eier in törichtem Staunen an.
»Los, geht weiter!« schrie Ben. »Um die Eier werde ich mich kümmern. Ihr schnappt euch Es.«
»Hier!« rief Richie und warf ihm ein Streichholzheftchen zu.
Ben fing es auf. Bill und Richie rannten weiter. Ben blickte ihnen in dem rasch schwächer werdenden Licht nach; sie rannten in die Dunkelheit seines Fluchtweges hinein und waren kurz darauf nicht mehr zu sehen.
Ben blickte auf das erste der dünnschaligen Eier hinab, auf den schwarzen Schatten im Innern, und seine Entschlossenheit schwand dahin. Dies... dies war einfach zuviel. Es war einfach zu gräßlich. Und bestimmt würden sie auch ohne sein Zutun sterben; sie waren ja sozusagen Frühgeburten, die ihre Mutter auf der Flucht vorzeitig verloren hatte.
Aber die Zeit ihrer regulären Geburt ist nicht mehr fern gewesen... und wenn auch nur eines von ihnen ausschlüpft und überlebt... wenn auch nur...
Ben nahm all seinen Mut zusammen, hielt sich Eddies bleiches, sterbendes Gesicht vor Augen und trat mit seinem Desert-Driver-Stiefel auf das erste Ei. Es brach mit einem scharfen Knacken entzwei, und eine schreckliche Art von Placenta rann unter seinem Fuß hervor. Und dann kroch eine etwa rattengroße Spinne unbeholfen über den Boden, versuchte zu entkommen, und Ben konnte sie in seinem Kopf hören, konnte ihre hohen Wimmerlaute hören...
Ben folgte ihr wie auf Stelzen und trat noch einmal zu. Er spürte, wie ihr Körper unter seinem Stiefelabsatz knirschte und zerbarst. ihm wurde so übel, daß er sich übergab... und dann bewegte er seinen Absatz hin und her, zermahlte das Ding und trat es total in den Stein hinein... und allmählich verstummten die Schreie in seinen Kopf.
Wieviel? Wieviel Eier? Habe ich nicht irgendwo einmal gelesen, daß Spinnen Tausende von Eiern legen können... oder sogar Millionen? Ich kann das nicht noch einmal tun. Ich werde dadurch den Verstand verlieren...
Du mußt es tun. Du mußt! Nun komm schon, Ben... nimm dich zusammen!
Er ging zum nächsten Ei und wiederholte den Vorgang im letzten schwachen Licht. Alles wiederholte sich: das scharfe Knacken, die ausströmende Flüssigkeit, der Gnadenstoß. Das nächste Ei. Das nächste. Das nächste. Er bewegte sich langsam auf die schwarze halbkreisförmige Öffnung zu, durch die seine Freunde gegangen waren. Jetzt herrschte absolute Dunkelheit. Beverly und das sich auflösende Netz waren nirgendwo hinter ihm. Er hörte es immer noch herabfallen - es klang wie fernes Wasserrauschen. Die Eier glichen matten Leuchtfeuern in der Finsternis. Sobald er wieder eines erreicht hatte, zündete er ein Streichholz an und zerbrach das Ei. Es gelang ihm jedesmal, der benommenen Jungspinne zu folgen und sie zu zertreten, bevor die Streichholzflamme erlosch.