»Tot?« rief Ben zutiefst erschrocken. Er mußte jetzt schon ganz nahe sein... und gleich darauf streifte seine Hand Bills Nase. »Was soll das heißen - tot?«
»Ich... er...« Sie trugen Richte jetzt zu zweit. »Ich kann ihn nicht sehen«, sagte Bill. »Das ist es. Ich k-k-k-kann ihn nicht s-s-s-sehen!«
»Richie!« brüllte Ben und schüttelte ihn kräftig. »Richie, nun komm schon! Komm zu dir, Richie, verdammt noch mal!« Bens Stimme schwankte. richie, wirst du wohl zu dir kommen, verflucht noch mal!«
Und mit benommener, verwirrter Stimme stammelte Richie: »Schon gut, Haystack... Schon gut... Du brauchst nicht so zu brüllen... Ich kann dich hören... glaube ich wenigstens...«
»Richie!« schrie Bill. »Richie, wie fühlst du dich?«
»Dieses Miststück hat mich durch die Luft geschleudert«, sagte Richie immer noch benommen. »Ich bin gegen etwas Hartes geprallt. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Wo ist Bevvie?«
»Weiter vorne«, sagte Ben und erzählte ihnen rasch von den Eiern. »Ich habe über hundert zertreten. Ich glaube, ich habe keins übersehen.«
»Ich bete zu Gott, daß dem wirklich so ist«, murmelte Richie. »Ihr könnte mich runterlassen. Ich kann laufen... ist das Wasser jetzt lauter?«
»Ja«, sagte Bill kurz. Die drei hielten sich im Dunkeln bei den Händen. »Was macht dein Kopf?«
»Tut höllisch weh«, sagte Richie, »Was ist da hinten zuletzt passiert, Bill?«
Bill erzählte es, wenn er auch einige Einzelheiten ausließ, weil er sie einfach nicht über die Lippen bringen konnte.
»Und Es ist wirklich tot?« erkundigte sich Richie fassungslos. »Bist du sicher, Bill?«
»Ja«, sagte Bill. »D-D-Diesmal b-bin ich mir ganz s-s-sicher.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Richie. »Halt mich mal fest, Bill, ich muß mich übergeben.«
Als Richie das hinter sich hatte, gingen sie weiter. Von Zeit zu Zeit stieß Bills Fuß gegen etwas Sprödes, das dann wegrollte - er vermutete, daß es Teile der Spinneneier waren, die Ben zertrampelt hatte, und ihn schauderte. Es war zwar angenehm zu wissen, daß sie sich in der richtigen Richtung bewegten, aber er war heilfroh, daß es dunkel war, daß er die... die Überreste nicht zu sehen brauchte.
»Beverly!« rief Ben. »Beverly!«
»Hier...« Ihr Rufen ging im Brausen des Wassers fast unter. Sie bewegten sich im Dunkeln auf sie zu, folgten dem Klang ihrer Stimme.
Als sie endlich bei ihr angelangt waren, fragte Bill, ob sie noch Streichhölzer habe. Sie tastete herum und drückte ihm ein halbvolles Heftchen in die Hand. Er zündete ein Streichholz an, und ihre Gesichter tauchten gespenstisch aus der Finsternis auf - Ben hatte einen Arm um Richie gelegt, der etwas vornübergebeugt dastand und aus der rechten Schläfe blutete; Beverly hatte Eddies Kopf auf dem Schoß... und dann drehte Bill sich um und sah Audra auf dem Steinboden liegen, mit gespreizten Beinen und auf die Seite herabhängendem Kopf. Die Spinnfäden, mit denen sie umgarnt gewesen war, waren zum allergrößten Teil weggeschmolzen.
Das Streichholz verbrannte ihm die Finger, und er ließ es fallen. Im
Dunkeln schätzte er die Entfernung falsch ein und stolperte über sie. Um ein Haar wäre er gestürzt.
»Audra! Audra! Kannst du m-m-mich h-hören?«
Er schob einen Arm unter ihren Rücken und setzte sie auf. Dann legte er seine Finger an ihre Halsschlagader. Ihr Puls ging langsam, aber gleichmäßig.
Er zündete wieder ein Streichholz an, und als es aufflammte, sah er, daß ihre Pupillen sich zusammenzogen. Aber das war eine mechanische Ner-venfunktion; ihr Blick veränderte sich nicht, auch dann nicht, als er das Streichholz dicht an ihr Gesicht hielt. Sie lebte, aber sie war nicht ansprechbar. Sie war fast - angsterfüllte Verzweiflung griff ihm eiskalt ans Herz, als das Wort ihm einfiel - sie war fast katatonisch.
Das zweite Streichholz verbrannte ihm die Finger, und er blies es aus.
»Bill, das Brausen des Wassers gefällt mir gar nicht«, sagte Ben. »Ich glaube, wir sollten machen, daß wir hier wegkommen.«
»Wie sollen wir das ohne Eddie schaffen?« murmelte Richie.
»Wir werden es schaffen«, sagte Beverly. »Bill, Ben hat recht. Wir müssen hier raus.«
»Ich nehme sie mit.«
»Selbstverständlich. Doch wir sollten uns jetzt schleunigst auf den Weg machen.«
»Aber in welche Richtung?«
»Du wirst es wissen«, sagte Beverly ruhig. »Du hast Es getötet, und du wirst es wissen.«
Bill hob Audra hoch, wie er vorhin Richie hochgehoben hatte, und ging mit ihr auf den Armen zu den anderen zurück. Es war beunruhigend und unheimlich, ihr warmes Fleisch zu spüren und sie gleichzeitig wie leblos in seinen Armen hängen zu sehen.
»Wohin, Bill?« fragte Ben.
»Ich w-w-w-weiß n...«
(Du hast Es getötet, und du wirst es wissen.)
»Also los, kommt«, sagte Bill. »Versuchen wir's mal, ob wir wieder herausfinden. Beverly, nimm die Streichhölzer.« Nach unbeholfenem Herumtasten fanden sich ihre Hände, und er gab ihr das Heftchen. Sie zündete ein Streichholz an, und im Schein seiner Flamme gingen sie auf die kleine Märchentür zu.
Bill schob Audra so behutsam wie möglich durch die Tür und kroch dann hinterher. Er war erschöpft und fühlte sich wie zerschlagen. In seinen Schläfen pochte rasendes Kopfweh. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt eine ungestörte Nacht verbracht hatte. Du bringst sie nie hier heraus, dachte er, während er sie wieder auf die Arme nahm und sich schwerfällig aufrichtete. Du hast einfach nicht mehr die Kraft dazu. Tatsache, alter Junge... du schaffst es nie im Leben.
Beverly kroch als nächste durch die Tür, dann Ben und zuletzt Richie, der sie hinter sich mit dem Fuß energisch zustieß. Mit einem lauten Klicken schnappte sie ins Schloß ein.
»Warum hast du das getan?« fragte Beverly.
»Ich weiß nicht«, antwortete er, aber er wußte es genau. Er wollte die ganze nach Verwesung stinkende Finsternis seiner Behausung einschließen - sie für immer und ewig da drinnen einschließen... so hoffte er zumindest. Er warf einen Blick zurück, kurz bevor Beverlys Streichholz erlosch.
»Bill... das Zeichen an der Tür...«
»W-Was ist damit?« keuchte Bill.
»Es ist verschwunden.«
5. Derry, 10.15 Uhr
Der Glaskorridor zwischen Erwachsenen- und Kinderbücherei explodierte plötzlich. Glasscherben flogen durch die windgepeitschten Bäume auf dem Büchereigelände. Jemand hätte von diesen gefährlichen Geschossen schwer verletzt oder sogar getötet werden können, aber zum Glück war kein Mensch in der Nähe, auch nicht im Gebäude selbst. Die Bücherei war an diesem Tag überhaupt nicht geöffnet worden.
Der Glastunnel, der Ben Hanscom als Junge so fasziniert hatte, wurde nie wieder aufgebaut; es hatte in Derry soviel kostspielige Zerstörungen gegeben, daß alle maßgeblichen Leute der Meinung waren, es sei vernünftiger, es einfach bei zwei getrennten Gebäuden zu belassen, und nach einiger Zeit konnte niemand vom Stadtrat sich mehr erinnern, wozu dieser Glastunnel überhaupt gut gewesen sein sollte. Nur Ben hätte ihnen vielleicht sagen können, wie es war, in der Kälte eines Januarabends draußen zu stehen, mit laufender Nase und eiskalten Fingerspitzen, und zu beobachten, wie dort Leute hin- und herliefen, wie sie ohne Mäntel durch den Schnee zu gehen schienen, in helles warmes Licht gehüllt. Er hätte es ihnen sagen können... aber vermutlich gehörte das nicht zu den Dingen, die man bei einer Stadtratssitzung vorträgt - wie man als Kind draußen in der dunklen Kälte stand und das Licht zu lieben lernte.
Aber wie dem auch sein mochte, Tatsache war ganz einfach folgendes: Der Glaskorridor flog ohne ersichtlichen Grund in die Luft, niemand wurde dabei verletzt (was ein Segen war, denn die Gesamtzahl an Opfern, die die Unwetterkatastrophe jenes Morgens forderte - an menschlichen Opfern -, belief sich ohnehin auf 67 Tote und mehr als 320 - zum Teil schwer - Verletzte), und er wurde nicht wieder aufgebaut. Wenn man nach dem i. Juni 1985 von der Kinderabteilung in die Erwachsenenbücherei gelangen wollte, mußte man außen herum gehen. Und wenn es kalt war oder regnete oder schneite, mußte man seinen Mantel anziehen.