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Auch Ben umarmte mich und fragte zum dritten oder vierten Male, ob ich schreiben würde. Ich bejahte, und ich werde auch wirklich schreiben ... zumindest eine Zeitlang. Denn diesmal passiert es auch mir. Ich fange an zu vergessen. Bis jetzt sind es - wie Bill gestern sagte - nur Kleinigkeiten, Einzelheiten. Auch ich habe das Gefühl, daß es weitergehen wird. Es ist durchaus möglich, daß dieses Notizbuch in einem Monat oder einem Jahr das einzige sein wird, wodurch ich mir in Erinnerung rufen kann, was hier in Derry geschehen ist. Und ich halte es sogar für möglich, daß ich vieles - oder alles - von dem, was ich hier aufgeschrieben habe, mit großer Verwunderung lesen werde, daß es mir total unglaubwürdig vorkommen wird - oder sogar, daß ich es für völlig unverständliches Geschwafel halten werde. Manchmal denke ich - hauptsächlich nachts, wenn ich Schmerzen habe und nicht schlafen kann -, daß vielleicht die Schrift verblassen könnte, daß dieses Notizbuch irgendwann nur noch aus leeren Seiten bestehen könnte, wie damals, als ich es kaufe. Das ist ein schrecklicher Gedanke, und am Tage kommt er mir auch total verrückt vor... aber nachts scheint er mir gar nicht so abwegig zu sein.

Dieses Vergessen... die Aussicht versetzt mich in eine Art dumpfe Panik, aber gleichzeitig verspüre ich insgeheim auch eine große Erleichterung. Denn dieses Vergessen sagt mir mehr als alles andere, daß sie Es diesmal wirklich zur Strecke gebracht haben, daß Es tot ist; daß jetzt kein Wachposten mehr nötig ist, der aufpaßt, ob der Zyklus von Schrecken und Mord wieder beginnt.

Dumpfe Panik, heimliche Erleichterung... Vielleicht wird letztere schließlich überwiegen...

Bill hat angerufen. Er und Audra sind bei mir eingezogen. ihr Zustand ist unverändert.

»Ich werde dich nie vergessen«, das waren Beverlys letzte Worte, bevor sie und Ben gingen.

Aber ich glaube, in ihren Augen eine andere Wahrheit gelesen zu haben.

6. Juni

Heute stand in den >Derry News< ein interessanter Artikel, auf Seite i. Die Überschrift lautete: sturm veranlasst henley, seine pläne zum ausbau des Kulturzentrums aufzugeben. Dieser Timothy Henley ist Multimillionär, ein Unternehmer, der Ende der sechziger Jahre nach Derry kam und hier viel Wind machte - Henley und Zitner waren es, die das Konsortium zum Bau des großen Einkaufszentrums organisiert haben (das - einem weiteren Zeitungsartikel auf Seite i zufolge - vermutlich nicht wieder aufgebaut wird). Henley war fest entschlossen, Derrys Wachstum in jeder Hinsicht zu fördern. Natürlich ging es ihm dabei um seinen Profit, aber das war nicht sein einziger Beweggrund; Henley hatte den aufrichtigen Wunsch, daß die Stadt wachsen und gedeihen sollte. Daß er nun plötzlich seine Pläne zum Ausbau des Kulturzentrums aufgegeben hat, mag teilweise daran liegen, daß er jetzt über Derry sehr verbittert ist. Ich halte es aber auch für möglich, daß die Zerstörung des Einkaufszentrums ihn in große finanzielle Schwierigkeiten gebracht hat.

Aber dem Zeitungsartikel zufolge ist Henley nicht der einzige; auch andere Kapitalanleger und potentielle Investoren scheinen es sich jetzt zu überlegen, sind offenbar nicht mehr daran interessiert, Geld in Derrys Zukunft zu investieren. Ai Zitner braucht sich mit solchen Problemen natürlich nicht mehr zu beschäftigen - Gott hat ihn in den ewigen Ruhestand versetzt, als der Kanal über die Ufer trat. Natürlich stehen all jene, die - wie Henley - die Innenstadt beleben wollten, nun auch tatsächlich vor einem schwierigen Problem - der größte Teil der Innenstadt ruht jetzt im Kanal oder ragt gerade noch ein Stück daraus hervor.

Ich persönlich glaube, daß Derry nach einer langen, dämonisch vitalen Blütezeit jetzt vielleicht im Sterben liegt... wie ein verblühtes Nachtschattengewächs.

Habe heute am Spätnachmittag Ben Denbrough angerufen. Audras Zustand unverändert.

Vor einer Stunde habe ich dann auch noch Richie Tozier in Kalifornien angerufen. Sein Anrufbeantworter war eingeschaltet. Ich hinterließ darauf meinen Namen und meine Telefonnummer, und nach kurzem Zögern- ich kann diese Apparate nicht leiden - fügte ich hinzu, ich hoffte, daß es ihm gut gehe und er seine Kontaktlinsen tragen könne.

Ich wollte gerade auflegen, als Richie selbst den Hörer abnahm und rief: »Mikey! Wie geht's dir?« Seine Stimme klang sehr herzlich und erfreut... aber ich hörte auch eine deutliche Verwirrung heraus.

»Hallo, Richie«, sagte ich. »Mir geht's ausgezeichnet.«

»Gut. Hast du noch Schmerzen?«

»Ein wenig. Aber sie lassen immer mehr nach. Das Jucken ist schlimmer. Ich werde verdammt froh sein, wenn ich endlich den Verband los bin. Ich hab' das Gefühl, man hätte mir Juckpulver darunter gestreut.«

Richie lachte. »Mit meinen Kontaktlinsen habe ich übrigens überhaupt keine Probleme mehr.«

»Freut mich zu hören.«

»Was ist mit Bill?«

»Er und Audra wohnen in meinem Haus, solange ich hier im Krankenhaus bin.«

»Gut. Das ist echt gut.« Er schwieg einen Augenblick. »Soll ich dir was verdammt Komisches erzählen, Mikey?«

»Na klar«, sagte ich. Ich glaubte zu wissen, was jetzt kommen würde, und ich hatte mich nicht getäuscht.

»Na ja... ich sitze hier in meinem Arbeitszimmer - es haben sich ganze Berge von Arbeit angesammelt - neue Platten, Kataloge etc. etc., und ich werde vermutlich die nächsten paar Wochen rund um die Uhr arbeiten müssen. Deshalb hatte ich den Anrufbeantworter eingeschaltet, aber den Ton etwas lauter gestellt, so daß ich hören konnte, wer anrief, und mich in wichtigen Fällen dann noch selbst melden konnte. Und daß ich dich so lange auf Band sprechen ließ, lag daran, daß...«

»Daß du zunächst nicht die leiseste Ahnung hattest, wer ich bin.«

»Stimmt genau! Woher weißt du das?«

»Weil wir wieder dabei sind zu vergessen. Diesmal wir alle.«

»Bist du sicher? Mikey, bist du ganz sicher?«

»Wie hieß Stanley mit Nachnamen?« fragte ich ihn.

Am anderen Ende der Leitung trat langes Schweigen ein. Schließlich sagte Richie sehr unsicher: »Ich glaube, Underwood, aber das ist kein jüdischer Name, stimmt's?«

»Er hieß Uris.«

»Uris!« rief Richie und hörte sich erleichtert und gleichzeitig erschüttert an. »Mein Gott, ich hasse es, wenn mir etwas auf der Zunge liegt und trotzdem nicht einfällt. Aber du erinnerst dich jedenfalls, Mikey. Wie zuvor.«

»Nein. Ich habe in meinem Adreßbuch nachgeschaut.«

Wieder trat längeres Schweigen ein. Dann: »Du wußtest es wirklich nicht mehr?«

»Nein.«

»Du willst mich nicht nur auf den Arm nehmen?«

»Nein.«

»Dann ist es diesmal wirklich vorüber«, sagte er, und deutliche Erleichterung war aus seiner Stimme herauszuhören.

»Ja, das glaube ich auch.«

Erneut langes Schweigen. Ich glaube, wir dachten beide das gleiche: Es war vorüber, ja. Und in sechs Wochen oder sechs Monaten würden wir einander total vergessen haben. Es war vorüber, und es hatte uns nichts gekostet als unsere Freundschaft... und Stans und Eddies Leben. Letzteres hatte ich fast vergessen, aber so schrecklich es sich auch anhören mag - ich habe Stan und Eddie selbst schon fast vergessen. Litt Eddie nun eigentlich an Asthma oder an chronischer Migräne? Ich glaube, es war Migräne, aber ich bin mir absolut nicht sicher. Ich werde Bill fragen. Er wird es wissen.

»Also dann - grüß Bill und seine hübsche Frau von mir«, sagte Richie mit gespielter Fröhlichkeit.

»Das werd' ich tun, Richie«, sagte ich, und dann schloß ich die Augen und rieb mir die Stirn. Er hatte sich daran erinnert, daß Bills Frau in Derry war... aber er erinnerte sich offensichtlich nicht an ihren Namen und an ihren fürchterlichen Zustand.

»Und falls du jemals nach Los Angeles kommen solltest - du hast ja meine Nummer. Ruf mich an, dann treffen wir uns und quatschen gemütlich miteinander.«

»Klar.« Ich spürte, daß in meinen Augen heiße Tränen brannten. »Das gleiche gilt natürlich auch umgekehrt.«