»Ich bin nicht beunruhigt.«
»Oh? Zittern deine Hände immer so? Hast du plötzlich die Brightsche Krankheit, Liebling?«
Er setzte sich wieder in seinen Sessel und versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht so recht. »Man sieht es mir an, wie?«
Im Fernsehen war der BBC-Sprecher gerade am Ende der schlechten Nachrichten dieses Abends angelangt und ging nun zu den Fußballergebnissen über. Als sie einen Monat vor Beginn der Dreharbeiten in der kleinen Vorstadt Fleet angekommen waren, waren sie beide von der technischen
Qualität des Fernsehens begeistert gewesen - mehr Zeilen oder irgend so was, hatte Bill gesagt. Ich weiß nicht, was es ist, hatte Audra gesagt, aber es sieht so fantastisch aus, als könnte man mit einem Schritt mitten im Geschehen stehen. Das war, bevor sie entdeckt hatten, daß ein großer Teil des Programms aus amerikanischen Fernsehserien bestand - > Charlie's Angels< und >Happy Days< bis hin zu >Dallas<.
»Natürlich sieht man es dir an«, sagte sie.
»Ich habe in letzter Zeit sehr viel an Zuhause gedacht«, sagte er und schlürfte seinen Drink.
»An Zuhause?« wiederholte sie und sah so verwirrt aus, daß er kurz auflachte und danach sein Glas leerte.
»Arme Audra«, meinte er. »Fast elf Jahre mit mir verheiratet - und du weißt überhaupt nichts von mir. Was sagst du dazu?« Wieder lachte er kurz auf, und die Art dieses Lachens gefiel ihr überhaupt nicht. Sie hatte noch nie ein Lachen gehört, das so große Ähnlichkeit mit einem Schmerzensschrei hatte. »Ich frage mich, ob die anderen auch Ehepartner haben, die gerade ähnliche Erfahrungen machen.«
»Bill, ich weiß jedenfalls, daß ich dich liebe«, sagte sie. »Und ich weiß auch, daß du mir etwas Angst einjagst. Bitte, erzähl mir, was los ist. Bitte!«
Sie sah ihn mit ihren herrlichen grauen Augen beschwörend an, diese Frau, die er geliebt und geheiratet hatte und immer noch liebte. Er versuchte sich mit ihren Augen zu sehen, es wie eine Story zu sehen, und er kam zu dem Schluß, daß solch eine Geschichte sich nicht gut verkaufen ließe.
Da ist ein armer Junge aus dem Bundesstaat Maine, der dank eines Stipendiums die Universität besucht. Er wollte immer Schriftsteller werden, aber als er dann die Schreibkurse besucht, stellt er fest, daß er sich ohne Kompaß in eine seltsame, beängstigende Welt verirrt hat; dieser Bursche will ein zweiter Updike werden, jener ein zweiter Faulkner; ein Mädchen bewundert Joyce Carol Oates, glaubt aber, daß die Oates aufgrund ihres Heranwachsens in einer sexistischen Gesellschaft unfähig zur >Reinheit< ist; es selbst werde reinere Werke schreiben, behauptet es.
Da ist ein kleiner Kerl mit dicken Brillengläsern, dessen Sprechen eher ein Murmeln ist. Er schreibt ein Stück mit sieben Personen, von denen jede nur ein Wort sagt; ganz allmählich sollen die Zuschauer begreifen, daß die Personen folgenden Satz zum besten geben: >Krieg ist das Werkzeug der sexistischen Todeshändler. < Das Stück wird vom Universitätslehrer für kreatives Schreiben, der außer seiner Doktorarbeit vier Gedichtbände bei Univer-sity Press veröffentlicht hat, mit der besten Zensur - einem > A< - benotet. Es wird von der experimentellen Theatergruppe einstudiert und während des Streiks zur Beendigung des Vietnamkrieges für würdig befunden, als echtes >Guerilla-Theaterstück< aufgeführt zu werden.
Bill Denbrough hat währenddessen mehrere Horrorgeschichten, eine geheimnisvolle Erzählung um ein verschlossenes Zimmer und drei Sciencefiction-Stories geschrieben. Für eine der Science-fiction-Geschichten hat er ein >B< bekommen. »Diese Geschichte ist besser«, hat der Lehrer darunter-geschrieberi. >Im Gegenschlag der Außerirdischen wird der Zirkelschluß dargestellt, daß Gewalt neue Gewalt erzeugt. Mir gefiel besonders das >nadelförmig zugespitzte< Raumschiff als symbolträchtiges Element der feindlichen Invasion. Die phallischen Untertöne sind zwar etwas konfus, aber interessant.« Bills andere Arbeiten sind allesamt nur mit >C< benotet worden.
Schließlich meldet er sich eines Tages im Unterricht zu Wort, nachdem die Diskussion über einige wenige Zeilen eines blassen Mädchens bereits 70 Minuten gedauert hat. Das blasse Mädchen, das eine Zigarette nach der anderen raucht und von Zeit zu Zeit an seinen Schläfenpickeln kratzt, besteht darauf, daß seine Zeilen ein sozio-kulturelles Statement darstellen. Der größte Teil der Klasse - und der Lehrer - ist der Meinung des Mädchens, aber die Diskussion geht immer noch weiter.
Die Augen der ganzen Klasse sind auf Bill Denbrough gerichtet. Deutlich artikuliert, ohne zu stottern (er stottert seit mehr als fünf Jahren nicht mehr), sagt er: »Ich verstehe das überhaupt nicht. Ich verstehe nichts von alldem. Warum muß eine Geschichte politisch oder sozial oder kulturell motiviert sein? Sind das nicht ganz natürliche Bestandteile jeder gut erzählten Geschichte? Ich meine...« Er blickt in die Runde, sieht feindselige Augenpaare und erkennt niedergeschlagen, daß sie in seiner Äußerung einen Angriff sehen - möglicherweise den Angriff eines geheimen sexistischen Todeshändlers in ihrer Mitte. »Ich meine... kann eine Geschichte nicht einfach eine Geschichte sein?«
Niemand erwidert etwas darauf. Schweigen breitet sich aus. Er steht da und blickt von einem kühlen Augenpaar zum anderen. Das blasse Mädchen stößt Rauchwolken aus und drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus.
Schließlich sagt der Lehrer sehr sanft wie zu einem Kind, das einen unerklärlichen Wutanfall hat: »Glauben Sie, daß William Faulkner einfach Geschichten erzählte? Glauben Sie, daß Shakespeare nur daran interessiert war, Geld zu verdienen? Los, Bill. Sagen Sie uns Ihre Meinung.«
»Ich glaube, daß das, was Sie soeben gesagt haben, sehr nahe an die Wahrheit herankommt«, erklärt Bill, und an den Augen der anderen Kursteilnehmer kann er ablesen, daß sie ihn verdammen.
»Ich würde sagen«, äußert sich der Lehrer, mit seinem Federhalter spielend und mit halb geschlossenen Augen nachsichtig lächelnd, »daß Sie noch eine ganze Menge lernen müssen.«
Der Beifall setzt irgendwo in den hinteren Reihen ein.
Bill geht - aber in der folgenden Woche ist er wieder da, fest entschlossen, nicht aufzugeben. Er schreibt eine Geschichte mit dem Titel >The Dark< ->Das Dunkel< -, die von einem kleinen Jungen handelt, der im Keller seines Hauses ein Monster entdeckt, den Kampf mit ihm aufnimmt und es schließlich tötet. Er verspürt eine Art heiliger Erregung, als er daran geht, diese Geschichte niederzuschreiben; er hat sogar das Gefühl, daß nicht er die Geschichte erzählt, sondern daß die Geschichte ihn nur als eine Art schreibendes Medium benutzt; und an einer Stelle legt er die Feder aus der Hand und geht in die Dezemberkälte hinaus, um seiner heißen, schmerzenden Hand etwas Erholung zu gönnen; er schlendert umher, der Schnee knirscht unter seinen kurzen grünen Stiefeln, und die Geschichte scheint seinen Kopf aufzublähen; es ist etwas beängstigend, wie stark sie hinausdrängt. Er hat das Gefühl, daß sie ihm in ihrem übermächtigen Drang die Augen aus dem
Kopf drücken wird, wenn ihr der Weg über seine Hand verwehrt wird. Er lacht unsicher auf. Ihm wird bewußt, daß er plötzlich nach zehn Jahren des Herumexperimentierens das Geheimnis des Schreibens entdeckt hat. Und er kann nicht länger warten; die Geschichte drückt regelrecht gegen seine Augen und Trommelfelle. Wenn er sie nicht jetzt gleich niederschreibt, wird sie ein Loch in seinen Kopf sprengen - ein rundes blutiges Loch wie von einer Pistolenkugel -, um herauszukommen.
Er stürzt in sein Zimmer und schreibt wie im Fieber die Geschichte zu Ende, schreibt bis vier Uhr morgens... und wenn jemand ihm gesagt hätte, daß er über seinen Bruder George schrieb, so wäre er höchst überrascht gewesen, denn er war der ehrlichen Überzeugung, seit Jahren nicht mehr an George gedacht zu haben.