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»Ich glaube, ich...«

»Ich werde es dir erzählen, denn du weißt es nicht. Du hast dieses Gefühl nie kennengelernt... nein, schüttle nicht den Kopf. Du hast es nie kennengelernt. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Kennst du das Transportband, das es auf dem internationalen Flughafen von Los Angeles gibt?«

Er lachte laut auf, nicht weil das Gespräch plötzlich eine neue Wendung genommen zu haben schien, sondern weil er genau wußte, worauf sie abzielte . Das Lachen tat gut; das Lachen machte alles ein wenig besser, ein wenig erträglicher. Er nickte.

»Es ist etwa eine Viertelmeile lang«, sagte sie. »Und man braucht nur dazustehen, und es bringt einen zur Gepäckhalle. Aber wenn man will, kann man darauf auch gehen. Oder rennen. Und es kommt einem so vor, als gehe oder laufe oder renne man ganz normal, wie immer- denn der Körper vergißt völlig, daß man sich dabei nicht nur mit dem eigenen Tempo bewegt, sondern daß das Tempo des Transportbandes noch hinzukommt. Deshalb auch die Schilder am letzten Stück, auf denen steht: tempo verlangsamen, TRANSPORTBAND BEWEGT SICH.

Als ich dich traf, fühlte ich mich, als wäre ich von einem solchen Ding direkt auf einen Boden gerannt, der sich nicht mehr bewegte. Da war ich nun mit meinem Körper, der meinen Füßen neun Meilen voraus war. Man kann dabei das Gleichgewicht nicht halten. Früher oder später fällt man hin. Aber du hast mich aufgefangen.«

Sie stellte ihr Glas ab und zündete eine Zigarette an, ohne den Blick von ihm zu wenden. Nur an der Tatsache, daß die Feuerzeugflamme das Zigarettenende ein paarmal verfehlte, konnte man erkennen, daß ihre Hände zitterten.

Sie zog intensiv an der Zigarette und stieß den Rauch aus.

»Du schienst alles so völlig unter Kontrolle zu haben«, fuhr sie fort. »Du schienst es nie eilig zu haben, zum nächsten Drink, zur nächsten Versammlung oder zur nächsten Party zu kommen. Du schienst dir sicher zu sein, daß all diese Dinge dasein würden... wenn du sie wolltest. Du sprachst langsam. Zum Teil lag das vermutlich an der gedehnten Sprechweise in Maine, aber zum größten Teil an deiner eigenen Persönlichkeit. Ich mußte langsamer werden, um dir zuhören zu können. Ich betrachtete dich, Bill, und ich sah einen Menschen, der auf dem Transportband ruhig dastand und sich vorwärtsbewegen ließ. Du schienst so unberührt von all der Hektik und Hysterie. Du hast dir nie einen Rolls-Royce gemietet, um damit am Samstagnachmittag auf dem Rodeo Drive zu protzen. Du hast nie eine von Judith Rossners Partys besucht. Du hast nie eine Show abgezogen.«

»Das können Schriftsteller gar nicht, es sei denn, daß sie Kartentricks beherrschen«, sagte er grinsend. »Es ist so eine Art Nationalgesetz.«

»Du hast mich gefragt, was ich von dir weiß«, sagte sie, ohne zu lächeln. »Ich weiß, daß du da warst, als ich dich brauchte. Du warst da, als ich mit voller Geschwindigkeit vom Transportband flog. Du hast mich aufgefangen. Vielleicht hast du mich davor bewahrt, nach zuviel Alkohol die falsche Tablette zu schlucken, oder vielleicht hast du mich davor bewahrt durchzudrehen, als mit 27 meine Brüste anfingen, ihre Straffheit zu verlieren. Vielleicht hätte ich es auch allein geschafft, vielleicht dramatisiere ich alles viel zu sehr. Aber tief im Innern glaube ich das nicht. Ich glaube, es ist die volle Wahrheit.«

Sie drückte die Zigarette aus, an der sie nur zweimal gezogen hatte, und die nun im Aschenbecher lag wie ein langes weißes Insekt mit gebrochenem Rücken.

»Seitdem warst du immer für mich da, das weiß ich. Wir waren gut füreinander, nicht nur im Bett, sondern auch sonst, das weiß ich. Ich weiß, daß du zuviel Bier trinkst und dich zu wenig bewegst, und ich weiß, daß du nachts manchmal schlecht träumst...«

»Ich träume nie«, sagte er bestürzt - bestürzt und beunruhigt.

Sie lächelte. »Das erzählst du den Journalisten, wenn sie dich fragen, woher du deine Ideen hast. Aber ich höre dich manchmal nachts stöhnen.«

»Spreche ich im Schlaf?« fragte er vorsichtig. Er konnte sich überhaupt nicht an irgendwelche Träume erinnern.

Audra lächelte ein wenig traurig. »Manchmal. Aber ich kann nie verstehen, was du sagst. Und einige Male hast du geweint.«

Er sah sie bestürzt an. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund und in der Kehle, bitter wie aufgelöstes Aspirin. Er vermutete, daß es Angst war... und er vermutete, daß er sich an diesen Geschmack gewöhnen würde. Wenn er lang genug lebte. Wenn er...

Erinnerungen versuchten auf ihn einzustürzen. Es war so, als würde irgendein geheimnisvolles schwarzes Ei in seinem Gehirn immer größer, als drohte es, schädliche Bilder aus seinem Unterbewußtsein in sein geistiges Gesichtsfeld zu schleudern, wo sie ihn zum Wahnsinn treiben würden. Er versuchte sie zurückzustoßen, aber zuvor hörte er eine Stimme aus jenem Grab - eine junge, ängstliche Stimme, die vor Asthma keuchte: Eddie Kasp-braks Stimme. Du hast mir das Leben gerettet, Bill. Diese großen Jungen - ich hab' Schiß vor ihnen. Manchmal glaube ich, daß sie mich wirklich umbringen wollen...

Und dann war Eddie in Tränen ausgebrochen, während er gleichzeitig keuchte und verzweifelt nach Atem rang.

»Deine Arme«, rief Audra. Sie starrte ihn mit großen ängstlichen Augen an.

Bill schaute hinab. Er hatte an beiden Armen eine Gänsehaut - eine unheimliche Gänsehaut mit weißen Erhebungen, die so groß wie Insekteneier waren.

Sie starrten beide darauf wie auf ein interessantes Exponat im Museum. Langsam verging die Gänsehaut wieder.

Audra brach das Schweigen, indem sie sagte: »O ja, und ich weiß noch etwas anderes. Jemand hat dich heute abend aus den Staaten angerufen, und jetzt sagst du, daß du mich verlassen mußt.«

Er stand auf und mixte sich noch einen Drink.

»Du weißt, daß ich einen Bruder hatte, und du weißt, daß er starb - aber du weißt nicht, daß er ermordet wurde«, sagte er. Audra gab hinter ihm ein keuchendes Geräusch von sich. Bill drehte sich nach ihr um. Sie preßte ihre Finger vor den Mund; ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Ermordet«, murmelte sie. »O Bill, warum hast du es...«

»Dir nicht erzählt?« Er lachte - es war wieder jenes bellende Geräusch, das sich anhörte wie ein schmerzerfülltes Heulen. »Ich weiß nicht. Es geschah an einem regnerischen Tag. Es hatte eine Überschwemmung gegeben. Und es war nicht Bangor, Audra. Es war eine kleine Großstadt oder eine große Kleinstadt - nenne es, wie du willst - namens Derry, etwa 25 Meilen südlich von Bangor. Jedenfalls war die Überschwemmung fast vorbei, und George wollte, daß ich ihm aus Zeitungspapier ein Boot machte. Er wollte es in den Rinnsteinen von Witcham Street und Jackson Street schwimmen lassen. Ich bastelte ihm also ein Boot und machte es wasserdicht, aber ich konnte nicht mit ihm nach draußen gehen, weil ich Grippe hatte. Ziemlich starke Grippe. Es ging mir zwar schon wieder besser, aber ich hatte noch Fieber, deshalb konnte ich ihn nicht begleiten. Andernfalls hätte ich ihn vielleicht gerettet. Ja, vielleicht hätte ich ihn retten können.«

Er hielt inne und fuhr sich mit der rechten Hand über die linke Wange, als suche er dort nach Bartstoppeln. Seine Augen, vergrößert durch die dicken Brillengläser, starrten nachdenklich ins Leere.

»Nun, er lief hinaus, und jemand ermordete ihn direkt auf der Witcham Street. Riß ihm den linken Arm aus, so wie ein Zweitkläßler einer Fliege die Flügel ausreißt, und ließ ihn dann im Rinnstein liegen und sterben.«

»O Gott, Bill!« Ihre Worte klangen fast wie ein Schrei.

»Aber du wolltest wissen, warum ich es dir nie erzählt habe«, fuhr er fort. »Wir sind seit fast elf Jahren verheiratet, und ich habe dir das nie erzählt. Ich weiß über deine ganze Familie Bescheid - sogar über deine Onkel und Tanten, obwohl ich sie manchmal durcheinanderbringe. Ich weiß, daß dein Großvater in lowa gestorben ist, als er in betrunkenem Zustand in seiner Garage an einer Bandsäge herumhantierte. Ich weiß diese Dinge, weil verheiratete Menschen, ganz egal, wie beschäftigt sie sind, nach einer gewissen Zeit fast alles erfahren, es sei denn, daß die Kommunikationskanäle so verstopft sind, daß sie einfach nicht miteinander reden können. Das alles stimmt doch, Audra, oder nicht?«