»Ja«, sagte sie leise. »Ich glaube, es stimmt.«
»Und wir konnten doch immer miteinander reden, nicht wahr?«
»Das... das dachte ich auch immer«, sagte sie. »Bis heute abend.«
»Das ist Blödsinn, und das weißt du selbst. Du weißt alles, was ich in den letzten zehn Jahren gemacht habe. Du weißt auch, daß ich mit Susan Browne geschlafen habe. Du weißt, daß ich sehr rührselig werde, wenn ich zuviel trinke. Du kennst genau all meine Hoffnungen, du liest das Zeug, das ich schreibe...«
»Aber das alles...« Sie brach mitten im Satz ab, dann setzte sie neu an: »Wieviel hat das... das alles... mit deinem Bruder George zu tun?«
»Laß mich auf meine Weise darauf kommen«, sagte Bill, und nun sah er sie fast flehend an. »Es ist so... so seltsam und so schrecklich..., daß ich vermutlich versuche, langsam darauf zuzukriechen. Weißt du... mir ist überhaupt nie in den Sinn gekommen, dir von Georgie zu erzählen.«
Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an und schüttelte leicht den Kopf: Ich verstehe nicht.
»Ich habe seit zwanzig Jahren oder mehr nicht mehr an Georgie gedacht«, sagte er langsam.
»Aber du hast mir erzählt, du hättest einen Bruder gehabt, der George...«
»Ich habe einfach eine Tatsache berichtet«, sagte er. »Weiter nichts - sein Name war für mich nur ein Wort. Ich habe mich nie in Gedanken mit ihm beschäftigt.«
»Vielleicht träumst du von ihm«, sagte Audra. Ihre Stimme war sehr ruhig.
»Du meinst das Stöhnen?« fragte er. »Das Weinen und Murmeln im Schlaf?«
Audra nickte.
»Vielleicht ist es so«, stimmte er zu. »Du hast höchstwahrscheinlich recht. Aber das zählt eigentlich nicht, weil ich mich an keinen dieser Träume erinnere.«
Er sah ihren zweifelnden Blick, nickte ihr zu und grinste unfroh. »Gott ist mein Zeuge, Audra.«
»Ich glaube dir«, sagte sie. »Aber du willst mir doch nicht erzählen, daß du überhaupt nie an deinen Bruder gedacht hast, Billy - diese entsetzliche Art, wie er gestorben ist -, es muß doch Dinge geben, gute oder schlechte, die dich ab und zu an ihn erinnern. Ich weiß, du warst noch ein Kind, als es passierte, aber...«
»Und doch ist es genau das, was ich dir klarzumachen versuche.«
Sie sah ihn an und schüttelte wieder leicht den Kopf.
»Ich habe seit zwanzig Jahren oder mehr nicht an ihn gedacht«, wiederholte er. »Er ist mir überhaupt nie in den Sinn gekommen. Georgie nicht, Derry nicht, und nicht die Kinder, mit denen ich dort eng befreundet war -Eddie Kaspbrak und Richie Tozier, Stan Uris, Bev Marsh...« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und lachte unsicher auf. »Ich glaube wirklich, ich habe den schlimmsten Gedächtnisschwund gehabt, von dem ich je gehört habe. Und dann rief Mike Hanion an...«
»Wer ist Mike Hanion?«
»Auch eines der Kinder, mit denen ich nach Georgies Tod eng befreundet war. Natürlich ist er jetzt kein Kind mehr. Wir alle nicht mehr. Er rief mich aus den Staaten an. Er sagte: >Hallo? Bin ich mit der Wohnung der Den-broughs verbunden?< Ich bestätigte es, und er fragte: >Bill, bist du's?< Ich sagte ja, und er sagte: >Hier spricht Mike Hanion, Bill. Aus Derry. < Und es war so, als öffne sich plötzlich eine Tür in meinem Innern, Audra, und ein schreckliches Licht schiene daraus hervor, und ich erinnerte mich plötzlich wieder an Mike - und an all die anderen - und an Georgie - und ich wußte, daß er mich bitten würde zu kommen, noch bevor er es sagte.«
»Nach Derry zurückzukommen?«
»Ja«, sagte er. Er nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und blickte sie an. Nie im Leben hatte sie einen so angsterfüllten Mann gesehen. »Nach Hause. Zurück nach Derry. Wir hätten es versprochen, sagte Mike, und das stimmt, Audra. Wir haben es versprochen, wir alle. Wir standen in einem Bach, der durch die Barrens floß, und wir standen im Kreis und hielten uns an den Händen, und wir hatten uns die Handflächen aufgeritzt, so als ob wir Blutsbruderschaft schließen< spielten - nur war das kein Spiel, es war unser völliger Ernst.«
Er streckte ihr seine Hände hin, und in der Mitte jeder Handfläche konnte sie eine laufmaschenartige weiße Linie erkennen, bei der es sich um ein Narbengewebe handeln konnte. Sie hatte unzählige Male seine Hand -beide Hände - gehalten, aber es war ihr nie zuvor aufgefallen. Die Narben waren schwach, aber man hätte glauben sollen...
Und dann jene Party! Nicht die, auf der sie sich kennengelernt hatten, sondern die Abschiedsparty nach Beendigung der Dreharbeiten von >Die schwarzen Stromschnellen<, mit denen alle sehr zufrieden gewesen waren. Und Audra Phillips sogar noch mehr als die anderen, denn sie hatte sich in dieser Zeit in William Denbrough verliebt.
Es war eine lärmende Party gewesen, bei der viel getrunken wurde. Wie hatte doch jenes Mädchen geheißen? Es fiel ihr im Moment nicht ein. Jedenfalls war es die Assistentin des Maskenbildners gewesen (und in >Die schwarzen Stromschnellen<, einem Film über wandelnde Tote, hatte der Maskenbildner viel zu tun gehabt). Sie hatte irgendwann während der Party ihre Bluse ausgezogen (darunter hatte sie, wie Audra noch genau wüßte, einen sehr durchsichtigen BH getragen) und sie sich um den Kopf gewickelt wie ein Zigeunerkopftuch. Den Rest des Abends hatte sie den Partygästen aus der Hand gelesen... zumindest bis sie soviel süßen Rotwein intus hatte, daß sie einschlief.
Audra erinnerte sich nicht mehr daran, ob diese Assistentin ihre Sache als Wahrsagerin gut oder schlecht gemacht hatte - sie war an jenem Abend selbst ziemlich high gewesen - woran sie sich aber genau erinnern konnte, war der Moment, als die Frau nach Bills Hand gegriffen und die Linien mit dem Finger nachgezeichnet hatte, und wie sie selbst sofort von leichter Eifersucht gepackt worden war - wie albern in jener merkwürdigen kleinen Subkultur, wo Männer den Frauen so routiniert die Hintern tätscheln wie anderswo die Wangen!
Aber... damals war in Bills Hand kein weißes Narbengewebe zu sehen gewesen. Dessen war sie sich ganz sicher, und das sagte sie Bill.
Er nickte. »Du hast völlig recht. Die Narben waren damals nicht da. Und obwohl ich es nicht beschwören könnte, glaube ich, daß sie gestern abend auch noch nicht da waren. Ralph und ich haben im >Pitt and Barrow< wieder mal ein Handringen um Bier veranstaltet, und ich denke, daß sie mir dabei aufgefallen wären.«
Er grinste sie an. Es war ein trockenes, unfrohes, beunruhigendes Grinsen.
»Ich glaube, sie sind zum Vorschein gekommen, als Mike Hanion anrief. Das ist es, was ich glaube.«
»Bill, das ist unmöglich.« Aber sie griff nach ihren Zigaretten.
Bill betrachtete seine Hände. »Stanley hat es gemacht«, sagte er. »Mit der Scherbe einer zerbrochenen Cola-Flasche. Ich erinnere mich jetzt so deutlich daran.« Er schaute Audra an, und die Brille reflektierte seine verstörten, verwirrten Augen. »Ich kann mich erinnern, wie diese Scherbe in der Sonne funkelte, und ich erinnere mich, wie Stanley zuletzt seine eigenen Hände aufritzte, wobei er zuerst so tat, als würde er sich die Pulsadern aufschneiden. Er machte natürlich nur Spaß, aber ich wäre ihm fast in den Arm gefallen... um ihn davon abzuhalten. Denn einen Augenblick lang sah es so aus, als sei es sein völliger Ernst.«
»Bill, nicht«, sagte sie leise. Diesmal mußte sie den Knöchel ihrer rechten Hand mit der linken festhalten, um die Feuerzeugflamme an die Zigarette halten zu können. »Narben können nicht plötzlich wieder auftauchen. Entweder sind sie da, oder sie sind nicht da.«