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»Aber du hast sie nie zuvor gesehen.«

»Sie sind sehr schwach«, erwiderte sie schärfer als beabsichtigt.

»Wir bluteten alle«, erzählte er weiter. »Und wir standen im Wasser, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Eddie Kaspbrak und Ben Hanscom und ich den Damm gebaut hatten...«

»Doch nicht Ben Hanscom, der Architekt?« rief sie bestürzt.

»Gibt es denn einen Architekten dieses Namens?«

»Du lieber Himmel, Bill, er hat das neue BBC-Kommunikationszentrum gebaut! Es wird immer noch darüber diskutiert, ob es nun ein Traum oder aber ein Alptraum ist!«

»Ich weiß nicht, ob das derselbe Ben Hanscom ist. Möglich wäre es. Der

Ben, den ich als Jungen kannte, konnte solche Dinge ganz fantastisch. Wir standen da, und ich hielt Bev Marshs linke Hand in meiner rechten und Richie Toziers rechte Hand in meiner linken. Wir standen da draußen im Wasser wie bei irgendeiner Taufzeremonie des Südens, und ich erinnere mich, daß ich den Wasserturm von Derry am Horizont sehen konnte, so weiß, wie man sich die Kleider der Erzengel vorstellt, und wir versprachen, wir schworen, daß - wenn es jemals wieder geschehen sollte, wir zurückkehren und dem ein Ende bereiten würden. Ein für allemal.«

»Wem ein Ende bereiten?« schrie sie, plötzlich wütend auf ihn. »Wem ein Ende bereiten? Verdammt, wovon redest du?«

»Ich wünschte, du würdest nicht f-f-fragen...«, begann Bill und verstummte. Ein Ausdruck verwirrten Schreckens huschte über sein Gesicht. »Gib mir eine Zigarette«, sagte er.

Sie reichte ihm die Packung. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte ihn seit fast sechs Jahren keine Zigarette mehr rauchen sehen.

»Ich habe damals gestottert«, sagte er.

»Du hast gestottert?«

»Ja. Du hast einmal zu mir gesagt, daß ich auf dich eine beruhigende Wirkung ausübte, weil ich nicht wie die Leute aus New York oder Kalifornien sprach. Erinnerst du dich noch daran? Du sagtest, ich würde langsam sprechen, und dadurch würdest du langsam denken und manchmal auch langsamer - und deshalb klüger - handeln...«

»Ich erinnere mich.«

»Du glaubtest, es hinge damit zusammen, daß ich aus Maine stamme. Aber das stimmt nicht, Audra. Alle ehemaligen Stotterer sprechen sehr langsam. Es ist einer der Tricks, die man lernt - genauso wie man lernt, an seinen Familiennamen zu denken, bevor man sich irgendwo vorstellt, denn Stotterer haben mit Substantiven mehr Schwierigkeiten als mit anderen Wörtern, und die größten Schwierigkeiten haben sie mit ihrem eigenen Vornamen.«

»Du hast gestottert?« Audra lächelte etwas verwirrt, so als hätte sie die Pointe eines Witzes nicht verstanden.

»Bis zu Georgies Tod habe ich mäßig gestottert«, fuhr Bill fort, und schon begann er im Geiste Wörter doppelt zu hören, wie in zeitlich unendlich weit voneinander entfernten Stereo-Lautsprecherboxen; die Wörter kamen mühelos heraus, in seiner langsamen und deutlichen Sprechweise, aber im Geiste hörte er >m-m-mäßig<. Auch das war eine unangenehme Erinnerung, auf die er gern verzichtet hätte. »Das heißt, es gab auch damals schon schlimme Momente - hauptsächlich in der Schule, wenn ich aufgerufen wurde - besonders dann, wenn ich die richtige Antwort wußte und geben wollte. Aber meistens hielt es sich in Grenzen. Nach Georgies Tod wurde das Stottern viel schlimmer. Als ich dann 14 oder 15 war, wurde es wieder besser. Wir hatten an der neuen High School in Portland eine Sprachthera-peutin, Mrs. Thomas, und sie half mir - sie lehrte mich den Trick, an meinen Nachnamen zu denken, bevor ich >Bill< sagte. Ich lernte damals in der Schule Französisch, und sie brachte mir bei, in die französische Sprache überzuwechseln, wenn ich etwas auf englisch nicht herausbekam. Wenn ich beispielsweise dastand und hilflos stotterte >Dieses B-B-B-B-<, konnte

ich auf französisch ausweichen und >cette livre< sagen. Das ging mir ganz leicht von den Lippen. Und meistens konnte ich dann auch auf englisch ohne Schwierigkeiten >dieses Buch< sagen.

All das half mir, aber hauptsächlich besserte sich mein Stottern, weil ich Derry und alles, was dort geschehen war, vergaß. Ja, Audra, damals vergaß ich alles. Auf der High School. Nicht von einem Augenblick zum anderen, aber in bemerkenswert kurzer Zeit. In vier Monaten oder so. Mein Stottern und meine Erinnerungen an die Geschehnisse in Derry verschwanden zur selben Zeit.«

Er stand auf, ging zur Bar, überlegte kurz und spülte dann sein Glas in dem kleinen Ablauf, Audra den Rücken zuwendend. »Vor wenigen Minuten habe ich gestottert. Bei dem Wort >fragen<. Ich glaube, es war das erste Mal seit 21 Jahren, daß ich gestottert habe.«

Er drehte sich nach ihr um.

»Die Narben und jetzt das St-Stottern. H-Hörst du es?«

»Das machst du jetzt absichtlich!« rief sie. Sie hatte plötzlich schreckliche Angst.

»Nein«, sagte er. »Ich glaube, man kann es niemand anderem begreiflich machen, aber ich kann das Stottern hören, bevor es herauskommt. Es ist wie ein leises Echo in meinem Kopf.« Er schloß den Barschrank und lehnte sich dagegen. Er sah erschöpft aus, und sie dachte mit Unbehagen daran, wie hart er in den letzten 13 Jahren gearbeitet hatte, als könnte er sein - wie er glaubte - bescheidenes Talent, das nur im Geschichten-Erzählen bestand, irgendwie rechtfertigen oder steigern, indem er unermüdlich arbeitete. Sie fragte sich beunruhigt, ob der Anrufer von vorhin vielleicht Ralph gewesen war, der Bill zu einem Bier in die Kneipe eingeladen hatte, oder vielleicht auch Firestone, der Regisseur von >Dachstube< oder vielleicht sogar jemand, der falsch verbunden gewesen war. Sie fragte sich, ob alles übrige vielleicht nur eine Halluzination von ihm war, der Beginn eines Nervenzusammenbruchs.

Aber die Narben - wie erklärst du dir dann die Narben? Er hat recht

-    sie    waren

vorher nicht da. Und du weißt das selbst.

»Was ist in Derry passiert?« fragte sie. »Erzähl mir auch den Rest, Bill. Wer hat deinen Bruder George ermordet? Und was ist danach geschehen?«

Er ging zu ihr und nahm ihre Hände.

»Ich nehme an, daß ich es dir erzählen könnte«, sagte er leise. »Ich glaube, ich könnte es, wenn ich wirklich wollte. Ich erinnere mich sogar jetzt nicht daran, aber ich kann die Erinnerungen spüren... wie Kinder, die darauf warten, geboren zu werden. Kinder, die... nicht gut sind. Vielleicht kann ich diese Erinnerungen ertragen, wenn ich mit den anderen zusammen bin, mit den anderen, die das durchgemacht haben...«

»Den anderen?«

»Mike hat sie alle angerufen«, erklärte er. »Er sagte, er glaube, daß sie alle kommen würden, vielleicht mit Ausnahme von Stanley. Er sagte, Stanley habe sich... sonderbar angehört.«

»Für mich hört sich das alles sehr sonderbar an«, sagte sie. »Du jagst mir schreckliche Angst ein, Bill.«

»Das tut mir leid, Liebling«, sagte er und küßte sie. Aber es war so, als würde sie von einem Fremden geküßt. Sie ertappte sich dabei, daß sie Mike Hanion haßte. Sie hatte ihn nie gesehen, aber sie haßte ihn.

»Ich hielt es für besser, dir zu erklären, soviel ich konnte. Besser, als sich einfach aus dem Staub zu machen, wie es vermutlich einige der anderen tun werden. Aber ich muß hin. Ich glaube, daß auch Stanley kommen wird, ob er sich nun sonderbar angehört hat oder nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, nicht hinzufahren.«

»Weil George dein Bruder war?«

Bill schüttelte langsam den Kopf. »Ich könnte dir zustimmen, daß das der Grund ist, aber es wäre eine Lüge. Ich liebte ihn. Ich weiß, wie merkwürdig sich das anhören muß, nachdem ich dir erzählt habe, daß ich seit zwanzig Jahren oder länger nicht mehr an ihn gedacht habe, aber ich liebte dieses Kerlchen wahnsinnig. Aber das ist nicht der Grund. Ich kann nicht erklären, was es ist. Ich...«