»Arbeitete er wirklich daran?« fragte Gardener, nicht weil es ihn wirklich interessierte, sondern weil er wollte, daß Hagarty bereitwillig weitererzählte.
»Ja - er schrieb Seite um Seite. Er sagte, es würde vielleicht ein schrecklicher Roman sein, aber jedenfalls würde es kein schrecklicher unvollendeter Roman bleiben. Er wollte ihn bis zu seinem Geburtstag im Oktober abschließen. Natürlich wußte er nicht, wie Derry wirklich ist. Er glaubte es zu wissen, aber er ist nicht lange genug hiergewesen, um auch nur eine Ahnung vom echten Derry zu bekommen. Ich habe versucht, ihn aufzuklären, aber er wollte nicht zuhören.«
»Und wie ist Derry in Wirklichkeit?« fragte Reeves.
»Es gleicht einer toten Hure, aus deren Fotze Würmer rauskriechen«, sagte Don Hagarty.
Die beiden Polizeibeamten starrten ihn in fassungslosem Schweigen an.
»Es ist ein schlechter Ort«, fuhr Hagarty fort. »Es ist eine einzige Kloake. Wollen Sie etwa sagen, daß Sie das nicht wissen? Sie haben Ihr ganzes Leben hier verbracht, und Sie wissen das nicht?«
Keiner von beiden antwortete. Nach kurzem Schweigen fuhr Hagarty in seinem Bericht fort.
Bevor Adrian Mellon in sein Leben getreten war, hatte Don vorgehabt, Derry zu verlassen. Er wohnte dort seit drei Jahren, hauptsächlich weil er einen längerfristigen Mietvertrag für ein Apartment mit fantastischer Aussicht auf den Fluß unterschrieben hatte, aber nun war der Vertrag fast abgelaufen, und darüber war Don sehr froh. Kein langes Hin- und Herpendeln nach Bangor mehr. Außerdem jagte Derry ihm irgendwie Angst ein. Das lag durchaus nicht nur an der strikten Ablehnung von Homosexuellen, die überall in der Stadt deutlich spürbar war, angefangen von den Predigern bis hin zu den Schmierereien im Bassey Park, aber diese Feindseligkeit war etwas Greifbares, worauf er den Finger legen konnte. Doch Adrian lachte nur darüber.
»Don, jede Stadt in Amerika hat ein Kontingent, das Schwule haßt«, sagte er. »Das weißt du doch genauso gut wie ich.«
»Komm mit zum Bassey Park«, erwiderte Don, als er sah, daß Adrian wirklich meinte, was er sagte - daß Derry auch nicht schlimmer als jede andere mittelgroße Stadt im Hinterland war. »Ich möchte dir etwas zeigen, mein Lieber.«
Sie fuhren zum Bassey Park - das war Mitte Juni gewesen, etwa einen Monat vor Adrians Ermordung, erzählte Hagarty den Pölizeibeamten. Er führte Adrian auf die dunkle, etwas unangenehm riechende Kußbrücke. Dort deutete er auf eine der Schmierereien. Adrian mußte ein Streichholz anzünden, um lesen zu können, was da stand.
ZEIG MIR DEINEN SCHWANZ SCHWULER UND ICH SCHNEIDE IHN DIR Aß!
»Ich weiß bestens Bescheid, was für Gefühle Leute Schwulen gegenüber haben«, sagte Don ruhig. »Als Teenager wurde ich auf einem LKW-Park-platz in Dayton zusammengeschlagen; einige Kerle in Portland zündeten vor einem Sandwich-Laden meine Schuhe an, während so ein alter Fettarsch von Bulle in seinem Streifenwagen saß und lachte. Ich hab' schon eine Menge gesehen... aber so etwas wie dies hier doch noch nie. Schau dir das einmal an. Schau's dir gut an.«
Ein weiteres Streichholz enthüllte:
BOHRT NÄGEL IN DIE AUGEN ALLER SCHWULEN ( FÜR GOTT ) !
»Wer auch immer diese kleinen Moralpredigten schreiben mag, muß ein unerkannter Irrer sein. Mir wäre wohler zumute, wenn ich glauben könnte, daß es nur eine Einzelperson ist, ein einziges krankes Hirn, aber...« Don machte eine vage Geste über die ganze Brücke hinweg. »Da steht jede Menge von solchem Zeug... und ich glaube nicht, daß es das Werk einer Einzelperson ist. Deshalb will ich Derry verlassen, Ade. Es scheint hier an zuviel Stellen zuviel dieser unerkannten Irren zu geben.«
»Na ja, aber warte, bis ich meinen Roman fertig habe, okay? Bitte! Oktober, nicht später, ich versprech's dir. Die Luft ist hier besser.«
»Er wußte nicht, daß er sich aber vor dem hiesigen Wasser hätte in acht nehmen müssen«, sagte Don Hagarty voll Bitterkeit.
Tom Boutillier und Andrew Peck beugten sich wortlos vor. Chris Unwin saß mit gesenktem Kopf da und redete monoton vor sich hin, so als erzählte er seine Geschichte dem Fußboden. Dies war der Teil, den sie hören wollten; dies war der Teil, der zumindest zwei dieser Arschlöcher nach Thomaston bringen würde.
»Auf dem Rummelplatz war nicht mehr viel los«, berichtete Unwin. »Alle tollen Karussells wurden schon abgebaut, diese Dinger wie das Devil Dish und das Parachute Drop, wissen Sie. Und an den Bumper Carts hing auch schon ein Schild >Geschlossen<. Nur die Kinderkarussells liefen noch. Also gingen wir rüber zu den Spielständen, und Webby sah die Wurfbude und zahlte 50 Cent, und dann hat er so 'n Hut gesehen, wie der Schwule ihn aufhatte, und er hat danach geworfen, aber er hat ihn dauernd verfehlt, und nach jedem Wurf ist seine Laune mieser geworden. Und Steve - das ist der Bursche, der normalerweise rumläuft und sagt, immer mit der Ruhe, beruhige dich, nur keine Aufregung und all so 'n Zeug, wissen Sie? Aber er war unheimlich aufgekratzt, denn er hatte vorher so 'ne Pille geschluckt, wissen Sie? Ich weiß nicht, was für 'ne Pille das genau war. 'ne rote Pille jedenfalls. Vielleicht war's sogar was Legales. Aber er zog Webby andauernd auf, bis ich schon dachte, Webby würde ihn verprügeln, wissen Sie? Er hat zu ihm gesagt, du kannst ja nicht mal so 'n Hut wie der Schwule gewinnen. Du mußt ja total bekloppt sein, wenn du's noch nicht mal schaffst, so 'n Hut wie der Schwule zu gewinnen. Und schließlich hat die Frau Webby dann 'nen Preis gegeben, obwohl der Ring nicht richtig drumherum lag, weil sie uns nämlich loswerden wollte, glaub' ich wenigstens. Es war so 'n Krachmacher, wissen Sie? Man bläst rein, und das Ding rollt sich ab und macht dabei so 'n Lärm, wie wenn einer 'nen Furz läßt, wissen Sie? Ich hatte auch mal so 'n Ding. Für Halloween oder Silvester oder irgendso 'n anderen verdammten Feiertag. Es war ein tolles Ding, nur hab' ich's dann verloren. Oder vielleicht hat's mir auch einer auf dem verdammten Schulhof aus der Tasche geklaut, wissen Sie? Na ja, und dann schloß der Rummelplatz, und wir gingen raus, und Steve hat immer noch Webby aufgezogen, daß er nicht mal in der Lage gewesen ist, so 'n Hut wie der Schwule zu gewinnen, wissen Sie, und Webby hat nicht viel gesagt, und ich hab' gewußt, daß das 'n schlechtes Zeichen ist, und ich hatte 'nen ganz schönen Bammel, wissen Sie? Und ich wollt' das Thema wechseln, nur fiel mir gar nichts ein, was ich hätte sagen können. Und wie wir dann auf dem Parkplatz gestanden haben, hat Steve gefragt: Wo willst du hin, nach Hause? - Und Webby hat gesagt: Fahren wir erst noch am >Falcon< vorbei und schauen nach, ob der Schwule da ist.«
Boutillier und Peck tauschten einen Blick. Boutillier klopfte sich mit einem Finger an die Wange - obwohl dieser Schwachkopf sich nicht klar darüber war, erzählte er jetzt von einem vorsätzlichen Mord.
»Und ich hab' widersprochen und gesagt, daß ich nach Hause muß, und Webby hat gespottet: Hast du Angst, in die Nähe der Schwülen-Kneipe zu kommen? - Und ich hab' gesagt: Verdammt, nein! Und Steve ist immer noch high oder so was Ähnliches gewesen, und er hat gesagt: Los, machen
wir mal Hackfleisch aus dem Schwulen! Machen wir mal Hackfleisch aus dem Schwulen! Machen wir mal...«
11
Fatalerweise war es genau der richtige Zeitpunkt. Adrian Mellon und Don Hagarty kamen gerade aus dem >Falcon< heraus, wo sie zwei Bier getrunken hatten, gingen am Busbahnhof vorbei und hielten dann Händchen. Es war eine ganz instinktive Geste, über die keiner von beiden besonders nachdachte. An der Ecke bogen sie nach links ab. Es war 22.20 Uhr.