Stephen Baxter
Evolution
»Mit Blick auf die Vergangenheit vermögen wir mit Sicherheit zu schließen, dass keine einzige der heute existierenden Spezies in unveränderter Form in die entfernte Zukunft eintreten wird. Und von den heute existierenden Spezies werden auch nur die wenigsten noch in der weit entfernten Zukunft existieren.«
Wieder für Sandra und für den Rest von uns, in der Hoffnung auf eine langfristige Perspektive
PROLOG
Das Flugzeug befand sich im Landeanflug auf Darwin, als es in eine Wolke aus dichtem schwarzem Rauch geriet. Die Fenster wurden verdunkelt und das australische Sommerlicht ausgeblendet. Die Triebwerke wimmerten.
Joan hatte sich mit Alyce Sigurdardottir unterhalten. Sie drehte sich auf dem Sitz um, wobei der Sicherheitsgurt sich unangenehm über den Bauch spannte. Dies war ein komfortables Großraumflugzeug, in dem sogar in der Economy Class die Sitze in Vierer- und Sechsergruppen um kleine Tische angeordnet waren. Ein Unterschied wie Tag und Nacht zu den fliegenden Sardinenbüchsen, an die Joan sich aus der Kindheit erinnerte, als sie mit ihrer Mutter – einer Paläontologin – um die Welt gereist war. Im Jahr 2031, einer Zeit voller Widrigkeiten und Unruhen, verreisten nicht mehr so viele Leute, und denjenigen, die es dennoch taten, wurde dafür etwas mehr Komfort geboten.
Im Angesicht der Gefahr wurde sie sich plötzlich wieder bewusst, wo sie sich befand, und nahm die Leute um sich herum wahr.
Joan betrachtete das Kind, das Alyce und ihr gegenübersaß. Das dem Anschein nach etwa vierzehnjährige Mädchen hatte einen silbernen Ohrstecker und schaute sich auf der Tischplatte Bilder der Mars-Sonde an. Selbst hier, zehntausend Meter über der Timorsee, war sie mit dem elektronischen Netz verbunden, das die halbe Erdbevölkerung vereinte. Sie war in Klänge und lebendige tanzende Bilder versunken. Ihr Haar war hellblau – ein Farbton wie aquamarin. Und die Augen leuchteten in einem kräftigen Orangerot, der Farbe des Marsstaubs, die die intelligente Tischplatte ausfüllte. Zweifellos war sie noch mit vielen anderen genetischen ›Verbesserungen‹ gesegnet, die nicht auf den ersten Blick erkennbar waren, sagte Joan sich säuerlich. Das Mädchen, im erweiterten Bewusstsein wie in einem Kokon eingesponnen, hatte von den beiden Frauen im mittleren Alter, die ihr gegenübersaßen, kaum Notiz genommen – sie hatte nur flüchtig große Augen bei der Musterung von Joans Figur gemacht, als diese Platz nahm. Die Gedanken standen dem Mädchen förmlich auf die Stirn geschrieben: In dem Alter ist sie noch mal schwanger geworden? Uiuiui…
Als das Flugzeug in die dunkle Wolke eintauchte, löste das Mädchen sich jedoch aus der HighTech-Blase und schaute aus dem Fenster. Die Symmetrie des makellosen Gesichts wurde durch eine leicht gerunzelte Stirn zerstört. Das Mädchen schaute ängstlich – wozu sie auch allen Grund hatte, sagte Joan sich. Die ganze genetisch modellierte Perfektion würde ihr nämlich auch nichts nützen, wenn das Flugzeug vom Himmel fiel. Joan verspürte einen Anflug von Sadismus und Neid, der einer Frau von vierunddreißig Jahren nicht gut anstand. Sei vernünftig, Joan. Jeder braucht zwischenmenschlichen Kontakt, ob er nun genetisch modelliert ist oder nicht. Ist das denn nicht die zentrale Botschaft deiner Konferenz, dass nur zwischenmenschlicher Kontakt uns alle retten wird?
Joan beugte sich nach vorn und streckte die Hand aus. »Ist alles in Ordnung, Kleines?«
Das Mädchen lächelte und zeigte blendend weiße Zähne. »Mir geht es gut. Es ist nur der Rauch, wissen Sie.« Sie hatte den nasalen Akzent der Westküste der Vereinigten Staaten.
»Waldbrände«, sagte Alyce Sigurdardottir. Ein Lächeln legte das lederhäutige Gesicht in Falten. Die Primaten-Forscherin war eine schlanke Frau von ungefähr sechzig Jahren, sah mit dem tief zerfurchten Gesicht aber älter aus. »Das ist die Ursache. Die Sommerfeuer in Indonesien und an der australischen Ostküste; sie brechen heute jedes Jahr aus und halten dann für Monate an.«
»Ach«, sagte das Mädchen, ohne wirklich beruhigt zu sein. »Ich dachte, das sei der Rabaul.«
»Du weißt darüber Bescheid?«, fragte Joan.
»Jeder weiß darüber Bescheid«, sagte das Mädchen in einem Tonfall, in dem ›du Dummchen‹ mitschwang. »Das ist ein großer Vulkankessel in Papua Neu Guinea. Direkt im Norden von Australien, nicht wahr? Im letzten Jahrhundert ist er alle zwei Jahre oder so von schwachen Erdbeben und Ausbrüchen erschüttert worden. Aber in den letzten Wochen hat es dort jeden Tag Erdbeben der Stärke Eins auf der Richterskala gegeben.«
»Du bist aber gut informiert«, sagte Alyce.
»Ich weiß gern, in was ich hineinfliege.«
Joan nickte und unterdrückte ein Lächeln. »Sehr weise. Aber Rabaul hat seit über tausend Jahren keinen starken Ausbruch mehr zu verzeichnen. Es wäre ausgesprochenes Pech, wenn gerade dann einer stattfindet, wenn man sich im Umkreis von ein paar hundert Kilometern befindet…«
»Ich heiße Bex. Bex Scott.«
»Bex – für Rebecca?… Scott.« Natürlich. Alison Scott war eine der prominentesten Teilnehmerinnen der Konferenz – eine medienfreundliche genetische Programmiererin mit einer Schar wunderschön genetisch modellierter Töchter. »Bex, der Rauch da draußen kommt wirklich von Waldbränden. Wir sind nicht in Gefahr.«
Bex nickte, aber Joan spürte dennoch die Angst hinter der altklugen Fassade.
»Nun«, sagte Joan leichthin, »wenn wir schon in einem Vulkankessel geröstet werden, sollten wir uns vorher noch bekannt machen. Mein Name ist Joan Useb. Ich bin Paläontologin.«
»Eine Fossilienjägerin?«, fragte Bex keck.
»Sozusagen. Und diese Dame…«
»Mein Name ist Alyce Sigurdardottir.« Alyce streckte eine kleine Hand aus. »Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Bex.«
Bex schaute sie an und sagte: »Tschuldigung, aber Ihre Namen klingen irgendwie… komisch.«
Joan zuckte die Achseln. »Useb ist ein San-Name – das heißt die anglisierte Version. Der eigentliche Name ist ein richtiger Zungenbrecher. Meine Familie ist tief in Afrika verwurzelt… sehr tief.«
»Und ich«, sagte Alyce, »hatte einen amerikanischen Vater und eine isländische Mutter. Eine Soldatenliebschaft. Ist eine lange Geschichte.«
»Wir leben in einer durcheinander gemischten Welt«, sagte Joan. »Die Menschen sind seit jeher eine Spezies auf Wanderschaft gewesen. Namen und Gene sind über die ganze Welt verstreut.«
Bex schaute Alyce mit einem Stirnrunzeln an. »Ihr Name kommt mir bekannt vor. Haben Sie was mit Schimpansen zu tun?«
Alyce nickte. »Ich führe einen Teil von Jane Goodalls Arbeiten fort.«
»Alyce entstammt einer langen Linie prominenter Primaten-Forscherinnen«, sagte Joan. »Ich frage mich schon die ganze Zeit, weshalb gerade Frauen auf diesem Gebiet so erfolgreich sind.«
Alyce lächelte. »Bitte keine Stereotypen, Joan. Aber es ist schon so, dass Verhaltensstudien an Primaten in freier Wildbahn eine Jahrzehnte lange Beobachtung erfordern – erforderten –, weil dieser Zeitraum den Lebenszyklus der Tiere umfasst. Also muss man sich in Geduld üben und die Fähigkeit zur Beobachtung besitzen, ohne ins Geschehen einzugreifen. Vielleicht sind das typisch weibliche Eigenschaften. Oder vielleicht ging es ihnen auch nur darum, dem von Männern dominierten akademischen Betrieb zu entfliehen. Der Urwald ist in dieser Hinsicht nämlich viel zivilisierter.«
»Trotzdem hat es eine lange Tradition«, sagte Joan. »Goodall, Birute Galdikas, Dian Fossey…«