Plötzlich spürte sie eine heiße und schwere Hand auf dem Arm und roch einen würzig riechenden Atem. »Hallo, Mädels. Habt ihr schon was vor?« Juna zuckte zurück und zog den Arm weg.
Das war Cahl, der Bier-Mann. Er war ein großer Mann und noch fetter als Acta, und er trug eine seltsam einengende Kleidung: eine knapp geschnittene Jacke und Hose, grobe Lederschuhe und einen Strohhut. Auf dem Rücken hatte er einen mit Bier gefüllten Lederbeutel, in dem es gluckerte, als er sich neben ihnen hinhockte. Er hatte ein pockennarbiges Gesicht, das wie der Erdboden nach einem starken Regen anmutete, und die Zähne waren hässliche braune Stümpfe. Und der Blick, mit dem er Juna angrinste, war von einer raubtierartigen Intensität.
Sion schaute ihn finster an. »Wieso gehst du nicht dorthin zurück, wo du hergekommen bist? Niemand will dich hier haben.«
Er runzelte flüchtig die Stirn und versuchte zu deuten, was sie gesagt hatte. Seine Sprache unterschied sich von ihrer. Es wurde gemutmaßt, dass Cahls Leute irgendwo aus dem fernen Osten gekommen waren und ihre eigentümliche Sprache mitgebracht hatten. »Ach«, sagte er schließlich, »viele Leute wollen mich hier haben. Manche sogar ganz besonders. Du würdest dich wundern, was die Leute mir als Gegenleistung dafür geben, was ich ihnen gebe.« Er setzte wieder diesen lüsternen Blick auf und bleckte braune, verfaulte Zähne. »Vielleicht sollten wir einmal darüber reden, du und ich«, sagte er zu Juna. »Vielleicht sollten wir herausfinden, was wir füreinander tun können.«
»Bleib mir vom Hals«, sagte Juna mit zitternder Stimme.
Doch Cahl starrte sie unverwandt an, wie die Schlange das Kaninchen.
Erleichtert hörte sie die Schritte der zurückkehrenden Männer, deren bloße Füße im Dreck knirschten. Die nackten Körper waren staubverkrustet, und sie waren sichtlich erschöpft. Juna sah, dass das Dutzend Männer außer ein paar Kaninchen und Ratten schon wieder mit leeren Händen nach Hause gekommen war; größere Tiere waren sehr selten.
Acta hatte Tori den feisten Arm um die Schultern gelegt. Juna wich dem Blick des schlanken Jungen aus und hätte doch zu gern gewusst, was er gerade dachte. Wie würde er wohl reagieren, wenn sie ihm erzählte, was bei ihren unbeholfenen Spielchen herausgekommen war?
Cahl wandte sich von den Mädchen ab, stand auf und hob den Lederbeutel mit Bier über den Kopf. »Willkommen, ihr Jäger!«
Acta ging zu ihm hin. Die Zunge hing dem Alten aus dem Mund, als ob der schwere Sack göttlichen Nektar enthielte. »Cahl, mein Freund. Ich hoffte, dass du hier wärst. Du bist ein besserer Schamane als der alte Narr in der Hütte.«
Sion stockte bei dieser schnoddrigen Blasphemie der Atem.
Cahl reichte ihm den Bierbeutel rüber. »Du siehst so aus, als ob du einen Schluck vertragen könntest.«
Acta schnappte sich den Beutel und drückte ihn an sich. Zugleich erschien ein Anflug der alten Verschlagenheit in den tief liegenden Schweinsäuglein. »Und die Bezahlung? Du siehst selbst, wie arm wir dran sind. Wir haben kaum genug Fleisch für uns. Aber…«
»Aber«, sagte Cahl gleichmütig, »ihr werdet mein Bier trotzdem nehmen. Stimmt’s?« Und er starrte Acta an, bis der den Blick senkte. Ein paar Männer raunten bei diesem Zeichen von Schwäche missbilligend. Doch was Cahl sagte, entsprach offensichtlich der Wahrheit. Er klopfte Acta leutselig auf die Schulter. »Wir können uns später darüber unterhalten. Ruh dich erstmal im Schatten aus. Und was mich betrifft…«
»Nimm sie«, nuschelte Acta, ohne den Blick vom Bier zu wenden. »Mach, was du willst.« Dann schlurfte er zur Hütte der Männer. Die anderen erfolglosen Jäger warfen das Fleisch vor die Hütten der Frauen und folgten Acta, um sich auch einen hinter den Knorpel zu gießen. Bald hörte Juna das Knurren des Schamanen, dessen Lebensgeister vom Biergeruch flugs wieder geweckt wurden.
Cahl kam zu den Mädchen zurück. Er schüttelte den Kopf. »Bei mir zu Hause würde man einen solchen Volltrottel rausschmeißen.«
Sion bekam eine Gänsehaut bei dieser neuerlichen Beleidigung. »Die Jungen leben bei den Männern in der Männer-Hütte. Sie ist ein Ort der Weisheit, wo die Jungen zu Männern werden. Und jeder Mann hat noch ein kleines Haus für seine Frau, Töchter und die kleinen Söhne. Das ist unsre Art zu leben. So haben wir immer schon gelebt.«
»Das ist vielleicht eure Art zu leben, aber nicht meine«, sagte Cahl unverblümt.
Diese Worte weckten irgendwie Junas Neugier.
Das Einzige, was sie über die neuen Leute wussten – außer dass sie begnadete Bierbrauer waren – war, dass ihrer sehr viele waren. Unter den Frauen ging das Gerücht, dass bei den Fremden kein Baby ausgesetzt wurde – kein einziges. Und deshalb gab es auch so viele, obwohl niemand wusste, wovon sie überhaupt lebten. Vielleicht streiften heute noch große Herden durch ihre Täler und Ebenen, wie sie es in längst vergangenen Zeiten getan hatten: in den Zeiten, von denen die Legenden kündeten.
»Wen?«, fragte Sion leise.
»Wen?«
»›Nimm sie‹, hat Acta gesagt. Wen?«
»Ach so, seine Frau«, sagte Cahl. »Pepule… Aha. Nun wird mir klar, wieso du dich so dafür interessierst. Acta ist nicht dein Vater, aber Pepule ist deine Mutter, nicht wahr?« Er grinste und schaute Juna mit diesem steinharten Blick an. »Das macht es noch reizvoller. Während ich es ihr besorge, werde ich an dich denken, Kleines.«
»Pepule trägt ein Kind in sich«, sagte Sion kalt.
»Ich weiß.« Er grinste. »So mag ich sie gerade. Geil, diese dicken Bäuche.« Wieder richtete er den harten, berechnenden Blick auf Juna. Dann nahm er eine Prise gemahlenen Korns aus ihrem Mörser und ging zur Hütte ihrer Mutter.
Unzufrieden und irgendwie verängstigt überließ Juna die Männer ihrem Trinkgelage und unternahm mit Sheb, ihrer Großmutter, einen Streifzug durch die Landschaft. Die fast sechzigjährige Sheb bewegte sich vorsichtig. In ihrem langen Leben war sie noch nie verletzt oder ernstlich krank gewesen und war noch sehr rüstig.
Die Leute lebten auf einem Hochplateau. Das Land war trocken, flach und eintönig. Die Vegetation war spärlich und bohrte die Wurzeln auf der Suche nach Wasser tief in den Boden. Es gab wohl Bäche und Flüsse, aber das waren bloße Rinnsale, die zwischen weit auseinander liegenden Ufern dahinplätscherten – ein schwacher Abglanz der Ströme, die hier einst durchgeflossen waren.
Die nackten Frauen, die nur mit einem Seil und kurzen Speeren mit Steinspitzen ausgerüstet waren, durchstreiften das Gelände und stellten und kontrollierten Fallen für die kleinen Tiere, von denen die Leute hauptsächlich lebten. Sie hätten gestaunt, wenn sie die mächtigen Herden der Pflanzenfresser gesehen hätten, denen Jahna und ihre Leute einst gefolgt waren, obwohl ihre Legenden von besseren Zeiten in der Vergangenheit kündeten.
»Wieso trinken die Männer eigentlich Bier?«, fragte Juna. »Das macht sie hässlich und dumm. Und sie müssen zu diesem schleimigen Cahl gehen. Wenn sie schon Bier trinken müssen, sollten sie wenigstens ihr eigenes brauen. Zwar wären sie dann noch genauso blöd. Aber wenigstens würde Cahl wegbleiben.«
Sheb seufzte. »So einfach ist das nicht. Wir können kein Bier brauen. Niemand weiß, wie das geht; nicht einmal der Schamane. Das ist ein Geheimnis, das Cahls Leute nicht preisgeben.«
»Wenn die Männer dumm sind, können sie nicht jagen. Sie denken immer nur an das Bier. Sie kennen nichts anderes mehr.«
Sheb schüttelte den Kopf. »Ich will mich nicht mit dir streiten, Kind. Mein Vater hat nie Bier getrunken – wir hatten damals nicht einmal von Bier gehört –, und er war ein guter Jäger… aber schau. Da ist ein Kaninchen in der Nähe.«
Juna untersuchte die Kaninchenlosung und drückte sie zwischen den Fingern, um zu prüfen, wie alt sie war. Die Sache mit Tori brannte ihr im Herzen und auf der Zunge.