Aber Sheb gab ein anderes Thema vor. »Ich weiß noch, als ich in deinem Alter war«, sagte sie. »Einmal regnete es, als ob der Himmel seine Schleusen geöffnet hätte – tagelang. Der Boden verwandelte sich in Schlamm, in den wir alle bis zu den Knien einsanken. Und dieses Tal hier wurde mit Wasser gefüllt – nicht etwa das lehmige Rinnsal, das du nun siehst –, sondern bis hinauf zum Ufer. Siehst du die blank geschliffene Kante?« Und wirklich, als Juna genau hinschaute, erkannte sie, dass das Ufer weit über der heutigen Wasserlinie erodiert war.
Und wenn schon! Abwesend rieb Juna sich den Bauch. Die Geschichten ihrer Großmutter von heftigen Regenstürmen, einem in Schlamm verwandelten Land und dem Leben, das daraufhin erblüht war, waren die phantastischen Visionen des Schamanen. Ihr bedeuteten sie nichts. Was waren Regen und Flüsse schon im Vergleich zum wachsenden Klumpen in ihrem Innern?
Ihre Großmutter gab ihr eine Kopfnuss. Juna zuckte erschrocken zusammen. Sheb schaute grimmig, sodass ihr Gesicht tief zerfurcht wurde. »Es könnte nicht schaden, wenn du mir zuhörst, du dummes Kind. Ich erinnere mich daran, wie es war, als der letzte Regen fiel. Ich erinnere mich, wie wir uns umgestellt haben. Wie wir ins Hochland umgezogen sind. Wie wir den Fluss überquert haben. An alles. Vielleicht werde ich es nicht mehr erleben, wenn der nächste Regen fällt – aber vielleicht wirst du es erleben. Und dann wird dein Überleben davon abhängen, was ich dir heute erzähle…«
Juna wusste, dass sie Recht hatte. Alten Leuten wurde eine große Wertschätzung entgegengebracht: Juna hatte gesehen, dass, bevor Shebs Mutter gestorben war, Sheb ihr das Essen vorgekaut und in eine Schüssel gespien hatte. In dieser Gesellschaft ohne Schrifttum waren alte Leute ein Archiv der Weisheit und Erfahrung. Und nun bestand sie darauf, dass ihre Enkeltochter ihr zuhörte.
Nur dass Juna heute nicht gewillt war, ein braves Mädchen zu sein. Sie versuchte den Trotzkopf zu spielen, fügte sich aber schließlich doch unter Shebs bösem Blick. »Ach. Sheb…« Plötzlich brach sie in Tränen aus; sie legte den Kopf auf Shebs Schulter, und die Tränen benetzten den trockenen Boden.
»Na sag schon. Was gibt’s denn so Schlimmes?«
Sheb hörte sich ruhig an, was Juna zu sagen hatte. Dann stellte sie gezielte Fragen: Wer der Vater sei, ob er ihr sich genähert hätte oder umgekehrt und wieso sie gerade jetzt hatte schwanger werden wollen. Die Auskunft, dass es sich um jugendlichen Leichtsinn gehandelt habe, schien ihr gar nicht zu gefallen. Auf Junas verzweifelte Frage – »Sheb, was soll ich denn nur tun?« – antwortete sie nicht; zumindest nicht sofort.
Doch Juna glaubte, die Umrisse ihrer Zukunft in Shebs harten und traurigen Gesichtszügen zu erkennen.
Plötzlich drang ein schriller Schrei aus dem Dorf zu ihnen. Juna fasste ihre Großmutter am Arm und eilte mit ihr nach Hause.
Wie sich herausstellte, hatten bei Pepule, Junas Mutter und Shebs Tochter, vorzeitig die Wehen eingesetzt.
Als sie mit Sheb ins Lager kam, sah Juna, wie der Bier-Mann, Cahl, ostwärts zu seiner geheimnisvollen Heimat aufbrach. Er hatte einen Sack mit Gütern überm Arm und scherte sich nicht um die Schmerzensschreie der Frau, die er noch am Morgen bestiegen hatte. Juna schaute ihm in kalter Wut hinterher.
In Pepules Hütte hatten Sion und andere Hebammen sich versammelt. Juna eilte zu Pepule. Sie schaute ihre Tochter mit verquollenen, schmerzerfüllten Augen an und ergriff Junas Hand. Juna sah eine Quetschung in Form eines Handabdrucks auf der prallen Brust ihrer Mutter.
Wie in solchen Fällen üblich hatten die Frauen einen Holzrahmen aufgestellt, vor dem Pepule hockte und an dem sie sich festhielt. Andere befeuchteten den Boden unter Pepule, um ihn aufzuweichen und hoben daneben ein flaches Loch aus. Es roch nach Erbrochenem und Blut.
Juna hatte schon bei vielen Geburten zugeschaut und geholfen, doch wo sie nun selbst eine kleine Last in sich trug, teilte sie den Schmerz wie nie zuvor.
Wenigstens war es eine schnelle Geburt. Das Baby fiel einer von Pepules Schwestern förmlich in die Arme. Mit einem schnellen, routinierten Handgriff durchtrennte sie die Nabelschnur, band sie mit einem Sehnenstreifen ab und wischte das Fruchtwasser mit einem Stück Leder ab. Dann versammelten die älteren Frauen, einschließlich Sheb, sich ums Baby und unterzogen es einer gründlichen Musterung.
Juna verspürte eine plötzliche, unerwartete Aufwallung von Freude. »Es ist ein Junge«, sagte sie zu Pepule. »Er sieht kerngesund aus…«
Ihre Mutter schaute sie mit leerem Blick an und wandte sich dann ab. Juna vernahm ein Gemurmel von den Frauen, die das Baby begutachteten; eine von ihnen schaute Juna missbilligend an.
Nun sah Juna auch, was sie da machten. Sie hatten das Baby auf den Boden gelegt, wo es die ersten Atemzüge tat. Juna sah die blonden Haarsträhnen des Jungen, die durchs Fruchtwasser am Kopf klebten. Pepules Schwester nahm einen Stock und schob das Baby ins Loch, das die Frauen gegraben hatten – als ob sie ein Stück vergammeltes Fleisch von sich schöbe. Dann schickten die Frauen sich an, das Loch zuzuschütten. Die erste Erde fiel auf das verständnislose Gesicht des Babys.
»Nein!« Juna ging dazwischen.
Sheb packte sie mit erstaunlicher Kraft an den Schultern und schob sie zurück. »Es muss sein.«
Juna wand sich in ihrem Griff. »Aber er ist doch gesund.«
»Es«, sagte Sheb. »Nicht er. Nur Leute sind er, und dieses Baby ist noch keine Person und wird auch nie eine werden.«
»Aber Pepule…«
»Schau sie dir an. Schau, Juna. Sie macht sich nichts draus und ist auch nicht traurig. So ist das eben. Sie fühlt überhaupt nichts für das Baby, nicht in diesen ersten paar Herzschlägen, wenn die Entscheidung getroffen werden muss. Wenn es leben sollte, um ein er zu werden, dann würde das Band natürlich stark werden. Aber das Band besteht noch nicht, und nun wird es auch nicht mehr…«
Und so weiter.
Pepule hustete. Sie schien erschöpft – Juna sagte sich, dass Cahl noch vor ein paar Stunden bei ihrer Mutter gelegen hatte und fragte sich, welchen Dreck er ihr wohl vermacht hatte.
Und Sheb redete noch immer auf sie ein.
Schließlich senkte Juna den Kopf. »Aber das Baby ist doch gesund«, flüsterte sie. »Er ist doch gesund.«
Sheb seufzte. »Ach, Kind, begreifst du es denn nicht? Wir können es nicht ernähren, und wenn es noch so gesund ist. Dies ist nicht die Zeit für ein Kind, jedenfalls nicht für Pepule.«
»Und ich?«, flüsterte Juna und hob den Kopf. »Was wird aus mir und meinem Baby?«
Shebs Augen umwölkten sich.
Juna entzog sich ihrem Griff und rannte aus der Hütte mit ihrem Gestank nach Kot, Blut und vergeudeter Milch.
Die beiden Schwestern saßen tuschelnd in einer Ecke der kleinen Hütte, die sie schon als Kinder für sich gebaut hatten.
Juna hatte Sion alles erzählt.
»Ich muss gehen«, sagte sie. »Das ist alles. Ich wusste es in dem Moment, als sie das Baby in dieses Loch schoben. Pepule ist stark und erfahren, aber ich bin noch ein Kind. Und Acta steht ihr noch immer zur Seite, auch wenn er gern einen über den Durst trinkt. Und Tori weiß nicht einmal, dass mein Kind von ihm ist. Wenn ihr Baby schon in ein Loch geschoben wird, was werden sie dann erst mit meinem machen?«
Sion schüttelte in der staubigen Dunkelheit den Kopf. »So darfst du nicht reden. Sheb hatte Recht. Es war keine Person; nicht, solang es keinen Namen hatte.«
»Sie haben ihn getötet.«
»Nein. Sie konnten es nicht leben lassen. Wenn nämlich alle Babys leben dürften, gäbe es nicht mehr genug zu essen, und dann müssten wir alle sterben. Du weist, dass das wahr ist. Da kann man nichts machen.«