Das war eine uralte Weisheit, die ihnen seit der Geburt eingehämmert wurde: ein Nachhall der Jahrzehntausende menschlicher Subsistenzwirtschaft. Jo’on und Leda waren auch schon damit konfrontiert worden. Genauso wie Roods Leute. Das war der Preis, den man zahlte. Aber in jeder Generation gab es welche, für die dieser Preis zu hoch war.
»Das ist mir egal«, sagte Juna.
Sion ergriff die Hand ihrer Schwester. »Du kannst nicht gehen. Du musst hier gebären. Lass dir von den Frauen helfen. Und wenn sie beschließen, dass es nicht der rechte Zeitpunkt sei…«
»Aber ich bin nicht wie Pepule«, sagte Juna betrübt. »Es wird mir nicht gelingen, darauf zu verzichten. Das weiß ich jetzt schon.« Sie schaute ihrer Schwester ins Gesicht. »Stimmt vielleicht etwas nicht mit mir? Wieso bin ich nicht so stark wie unsere Mutter? Ich habe das Gefühl, dass ich mein Baby jetzt schon so sehr liebe, wie Pepule dich und mich je geliebt hat. Ich weiß, wenn sie es mir wegnehmen, dann könnte ich mich gleich auch ins Loch legen, weil ich ohne…«
»Sag doch nicht so was«, sagte Sion.
»Ich werde morgen früh gehen«, sagte Juna mit bemüht fester Stimme. »Ich werde einen Speer mitnehmen. Das ist alles, was ich brauche.«
»Wohin willst du überhaupt gehen? Du kannst doch nicht allein leben – und schon gar nicht mit einem Baby an der Brust. Und wo auch immer du hinkommst, werden die Leute dich mit Steinen vertreiben. Das weißt du. Wir würden das Gleiche tun.«
Einen Ort gibt es aber, sagte Juna sich, wo die Leute zumindest anders sind, wo sie ihre Babys – vielleicht – nicht ermorden und von wo die Leute mich vielleicht nicht vertreiben werden.
»Komm mit mir, Sion. Bitte.«
Sion, deren Tränen schon wieder trockneten, zog sich zurück. »Nein. Wenn du dich umbringen willst, dann… dann respektiere ich deine Entscheidung. Aber ich will nicht mit dir sterben.«
»Dann wäre also alles gesagt.«
Sie hatte nichts bei sich außer einem Speer und einer Speerschleuder und war mit einem einfachen Leibchen aus gegerbtem Ziegenleder bekleidet, sodass sie kaum Ballast hatte und trotz der ungewohnten Bürde im Bauch schnell vorankam.
Das Land war so trocken, dass Cahls Fußspuren noch gut erhalten waren. Hier und da stieß sie auch auf andere Spuren von ihm – halb eingetrocknete Urinpfützen, Kothaufen. Die Verfolgung von Bier-Männern schien eine leichte Übung zu sein.
Sogar weit außerhalb des Dorfes, außerhalb des Bereichs, in dem die Jäger normalerweise ausschwärmten, war das Land leer.
Nach Jahnas Zeit hatte das Eis sich wieder in arktische Breiten zurückgezogen. Die Wälder hatten sich nordwärts ausgebreitet und die alte Tundra begrünt. Und in der ganzen Alten Welt schwärmten die Leute aus den Refugien aus, in denen sie den großen Winter verbracht hatten, von Inseln relativer Wärme wie dem Balkan, der Ukraine und der Iberischen Halbinsel. Schnell füllten ihre Kinder die riesigen entvölkerten Ebenen Europas und Asiens.
Aber es war nicht mehr so wie beim letzten Mal, als die Eismassen sich zurückgezogen hatte.
In Australien hatte es nach Ejans Ankunft gerade einmal fünftausend Jahre gedauert, um die Megafauna zu vernichten – die Riesenkängurus, Reptilien und Vögel. Überall, wohin die Menschen nun gingen, hinterließen sie eine ähnliche Spur der Verwüstung.
In Nordamerika hatte es Bodenfaultiere mit der Größe von Rhinozerossen gegeben, Riesenkamele und Bisons mit spitzen Hörnern, deren Abstand von Spitze zu Spitze mehr als die Armspanne eines ausgewachsenen Manns betrug. Diese großen Tiere waren die Beute von muskulösen Jaguaren, Säbelzahntigern, Wölfen mit Zähnen, die Knochen zu knacken vermochten und den schrecklichen kleingesichtigen Bären. Die amerikanischen Prärien mochten wie die afrikanische Serengeti in späteren Zeiten angemutet haben.
Doch als die ersten Menschen von Asien nach Alaska einwanderten, implodierte dieses phantastische Ensemble. Sieben von zehn der Großtier-Spezies wurden innerhalb von ein paar Jahrhunderten ausgerottet. Selbst die Urpferde wurden ausgelöscht. Viele der überlebenden Kreaturen – wie die Moschusochsen, Riesenelche und Amerikanische Elche – waren wie die Menschen aus Asien eingewandert und hatten inzwischen gelernt, in einer von Menschen dominierten Welt zu überleben.
Ähnlich verhielt es sich in Südamerika, wo sogar acht von zehn Großtier-Spezies ausgelöscht wurden, nachdem die Menschen über die Landbrücke von Panama eingewandert waren. Und das geschah auch in den Ebenen Eurasiens. Sogar die Mammuts wurden ausgerottet. All die großen Tiere verschwanden im Nebel der Geschichte.
Und der Schaden verhielt sich nicht immer proportional zur Größe des besiedelten Gebiets. In Neuseeland, wo es keine Säugetiere, sondern Beuteltiere gegeben hatte, waren von der Evolution ›spielerisch‹ andere Geschöpfe in die Rolle von Säugetieren eingesetzt worden, insbesondere Vögel. Es gab flügellose Gänse anstatt Kaninchen, kleine Singvögel anstatt Mäusen, Raubvögel anstatt Raubkatzen und siebzehn verschiedene Arten von Moas, großen flügellosen Vögeln, die wie geflügelte Hirsche anmuteten. Diese einzigartige Fauna, die einer fremden Welt zu entstammen schien, wurde nach ein paar hundert Jahren menschlicher Besiedlung vernichtet – und nicht immer durch die Menschen selbst, sondern durch die Kreaturen in ihrem Gefolge; vor allem durch die Ratten, die die Nester der Bodenvögel plünderten.
All diese Tiere hatten unter dem Druck des schnell sich verändernden Klimas am Ende der Eiszeit gestanden. Jedoch hatten die meisten dieser uralten Linien schon viele ähnliche Veränderungen in der Vergangenheit überlebt. Was diesmal den Ausschlag gab, war die Präsenz von Menschen. Es war aber keine schnelle Auslöschung. Die Menschen waren oftmals ungeschickte Jäger, und Großwild machte nur einen kleinen Teil ihrer Nahrung aus. Viele Gemeinschaften, wie Jahnas Leute, glaubten gar, sie würden die Tiere schonen. Indem sie den Tieren aber zu einer Zeit nachstellten, zu der sie am verwundbarsten waren, indem sie selektiv nur die Jungtiere töteten, indem sie in Lebensräume einbrachen und Schlüsselglieder aus der Nahrungskette rissen, von der ganze Tiergemeinschaften existierten, richteten sie doch großen Schaden an. Nur in Afrika, wo die Tiere sich neben den Menschen entwickelt und Zeit gehabt hatten, sich mit ihnen zu arrangieren, wurde so etwas wie die alte Vielfalt des Pleistozäns bewahrt.
Roods kühler Garten Eden war längst vergangen. Die Vegetation war geschrumpft und einer leeren, hallenden Welt gewichen, die von verlorenen Menschen durchstreift wurde. Sie vergaßen schnell, dass die großen exotischen Tiere und die verschiedenen Arten von Menschen überhaupt existiert hatten.
Die Leute lebten natürlich noch immer als Jäger und Sammler. Aber es erwies sich als viel schwieriger, Hirsche und Wildschweine in den Wäldern zu jagen als Rentieren aufzulauern, die in der offenen Steppe Flüsse überquerten. Nach dem Massensterben verschlechterte die Lebensqualität sich im Vergleich zu früher: Die Nahrungsqualität wurde schlechter, und man musste mehr Zeit in die Nahrungssuche investieren. Weltweit entwickelte die Kultur der Menschen sich zurück und wurde primitiver.
Im tiefsten Innern wussten die Menschen, dass etwas nicht stimmte. Und nun gerieten sie erneut unter Druck.
Juna holte Cahl schon nach einem halben Tag ein. Er hatte es sich im Schatten einer erodierten Sandsteinklippe gemütlich gemacht und mümmelte eine Wurzel. Das Fleisch und die Artefakte aus Muscheln und Knochen, die er von den Leuten bekommen hatte, lagen neben ihm im Schmutz.
Er beobachtete ihre Annäherung; seine Augen leuchteten im Schatten. »Na«, sagte er ölig. »Du Goldköpfchen.«
Sie kannte das Wort ›Gold‹ nicht und verlangsamte unter seinem stechenden Blick den Schritt.