Also wartete er stundenlang, während die Sonne an diesem letzten Tag immer höher stieg und das Kometenlicht unmerklich heller wurde. Er zuckte nicht einmal zusammen, als Meteore über ihr verglühten.
Wenn er gewusst hätte, dass der Gigantosaurier ihn beobachtete, wäre es ihm auch egal gewesen. Und selbst wenn er das Fanal des Kometenlichts erkannt hätte, wäre es ihm egal gewesen. Er wollte Purga schnappen; das war alles, was ihn interessierte.
Es war schon eine besondere Ironie, dass Verletzlicher Zahn ausgerechnet durch seine hohe Intelligenz in diese Situation geraten war. Er gehörte nämlich zu den wenigen Dinosaurier-Arten, die intelligent genug waren, um verrückt zu werden.
Es war noch nicht dunkel. Purga sah das an den Lichtreflexen am Eingang des Baus. Aber welche Bedeutung hatten Tag und Nacht überhaupt noch in diesen merkwürdigen Zeiten?
Weil das Kometenlicht die Nacht seit einiger Zeit zum Tag machte, war sie erschöpft, unruhig und hungrig – und das Gleiche galt auch für ihren Gefährten, Dritter und die zwei überlebenden Jungen. Die Jungen waren fast schon so groß, um selbst auf die Jagd zu gehen, und deshalb waren sie gefährlich. Wenn es nicht genug Nahrung gab, fiel die im Bau eingepferchte Familie vielleicht noch übereinander her.
Sie setzte neue Prioritäten und revidierte eine frühere Entscheidung. Sie würde nach draußen gehen müssen, auch wenn es nicht die richtige Zeit zu sein schien, auch wenn das Land mit Licht überflutet war. Zögernd bewegte sie sich auf den Ausgang des Baus zu.
Draußen hielt sie inne und lauschte. Es waren keine Schritte zu hören, unter denen die Erde erbebte. Sie ging mit zuckenden Schnurrhaaren weiter.
Das Licht war stark und seltsam. Kometenbruchstücke fielen vom Himmel und erleuchteten das Firmament wie ein lautloses Feuerwerk. Es war außergewöhnlich und hatte einen gewissen Reiz – schließlich war es viel zu weit entfernt, um eine Gefahr darzustellen…
Ein riesiger Käfig fiel vom Himmel. Sie rannte zum Bau zurück. Aber diese großen Hände waren schneller, und dicke muskulöse Finger krümmten sich um sie.
Und nun erblickte sie einen Verhau aus Zähnen, hunderte von Zähnen und ein riesiges Gesicht mit Reptilienaugen, die so groß waren wie ihr Kopf. Ein riesiges Maul öffnete sich, und Purga roch Fleisch.
Das Dinosauriergesicht mit dem großen Maul, das mit pergamentartiger Haut bespannt war, hatte nicht die Beweglichkeit von Purgas weicher Schnauze. Verletzlicher Zahn hatte ein starres, ausdrucksloses Gesicht wie ein Roboter. Obwohl sie es nicht zu zeigen vermochte, war das ganze Sein von Verletzlicher Zahn auf das kleine warme Säugetier in ihrem Griff fokussiert.
Purgas Gliedmaßen wurden an den Körper gepresst, und sie hörte auf zu zappeln.
Eigentümlicherweise verspürte Purga im diesem letzten Moment einen Seelenfrieden, um den Verletzlicher Zahn sie beneidet hätte. Purga war bereits im mittleren Alter, was sich durch eine verlangsamte Bewegung und Gehirnleistung bemerkbar machte. Und sie hatte schließlich alles erreicht, worauf ein Geschöpf wie sie überhaupt hoffen durfte. Sie hatte Nachwuchs bekommen. Obwohl sie in der Schraubzwinge des kalten Reptiliengriffs des Troodons steckte, roch sie die Jungen in ihrem Fell. Auf ihre Art war sie zufrieden. Sie würde hier und jetzt sterben – in wenigen Herzschlägen –, aber die Spezies würde überdauern.
… Und dann schob sich irgendetwas hinter den massigen Leib des Troodons, etwas noch Größeres – ein lautlos gleitender Berg.
Das Troodon war unglaublich sorglos. Riese fragte aber nicht nach dem Grund dafür. Und er interessierte sich auch nicht für den warmen Brocken, den Verletzlicher Zahn in der Pfote hatte.
Der Angriff erfolgte schnell, lautlos und mit einem präzisen Biss ins Genick. Verletzlicher Zahn hatte noch Zeit, eine Schrecksekunde und einen unerträglichen Schmerz zu verspüren – und eine enorme Erleichterung, als Weiße ihn umfing.
Er öffnete die Pfote. Ein Fellknäuel flog durch die Luft.
Bevor Verletzlicher Zahn noch zu Boden ging, hatte Riese zu einem zweiten Angriff angesetzt. Er schlitzte ihm den Bauch auf und riss die Gedärme heraus. Dann schüttelte er ihn und verteilte den Inhalt in der Gegend. Blutige, halb verdaute Nahrung spritzte heraus.
Bald kamen seine beiden Brüder auf die Lichtung gerannt. Gigantosaurier jagten zwar gemeinsam, aber ihr sozialer Zusammenhalt war selbst im günstigsten Fall nur als brüchig zu bezeichnen. Riese wusste, dass er seine Beute nicht zu verteidigen vermochte, aber kampflos aufgeben wollte er sie dann auch nicht. Während er die Leber von Verletzlicher Zahn verspeiste, trat und schnappte er nach den anderen.
Purga fiel auf den Boden. Über ihr bekämpften sich Berge mit animalischer Wildheit. Ein Regen aus Blut und Speichel prasselte auf sie nieder. Sie hatte keine Ahnung, was überhaupt passiert war. Sie hatte dem Tod ins Auge geschaut. Nun lag sie hier im Dreck und war wieder frei.
Und das Licht am Himmel wurde immer unheimlicher.
Der Kometenkern hätte das Raumvolumen, das von der Erde eingenommen wurde, in nur zehn Minuten zu durchqueren vermocht.
Auf der feurigen Bahn, die der Komet gezogen hatte, war ihm ein Großteil seiner Masse abhanden gekommen, aber nicht so viel, dass es seine Existenz gefährdet hätte. Wenn es ihm gelungen wäre, die Umrundung der Sonne abzuschließen, hätte er sich wieder zur Kometenwolke zurückgezogen und wäre schnell abgekühlt. Die ästhetische Koma und der Schweif wären in der Dunkelheit erloschen, und der Kern wäre wieder in seinem äonenlangen Traum versunken.
Wenn.
Seit Tagen und Wochen hatte der Komet langsam und stetig am Himmel seine Bahn gezogen. Dass er ihnen von Stunde zu Stunde näher kam, vermochte keine der Kreaturen zu erkennen, die verständnislos zu ihm aufschauten. Doch nun glitt der hell leuchtende Kopf: Er stieg den Himmel herab wie eine untergehende Sonne und sank dem südlichen Horizont entgegen.
Auf der ganzen Tagseite des Planeten wurde es still. Die Entenschnäbel, die sich um die austrocknenden Seen geschart hatten, schauten auf. Raptoren brachen Pirsch und Verfolgung für einen Moment ab und versuchten dieses noch nie da gewesene Schauspiel zu deuten. Vögel und Pterosaurier stiegen verängstigt von den Nestern und Brutstätten auf und suchten angesichts einer unbegreiflichen Bedrohung den Schutz der Luft.
Selbst die kämpfenden Gigantosaurier hielten in ihrer viehischen Fresserei inne.
Purga flüchtete sich in die Dunkelheit des Baus. Der abgetrennte Kopf des Troodons fiel hinter ihr zu Boden und blockierte den Eingang des Baus. Er verfolgte Purga mit einem grotesken leeren Blick, während das Licht weiterwanderte.
KAPITEL 2
Die Jäger von Pangäa
Pangäa, vor ca. 145 Millionen Jahren
Achtzig Millionen Jahre vor Purgas Geburt streifte ein Ornitholestes durch den dichten Wald des Jura und jagte Diplodocus.
Dieser Ornith war ein Fleisch fressender Dinosaurier mit einem schlanken Leib. Er hatte ungefähr die Größe eines ausgewachsenen Menschen, aber nur die halbe Masse. Das Tier hatte kräftige Hinterbeine, einen langen Schwanz, mit dem es die Balance hielt, spitze kegelförmige Zähne und ein weiches braunes Federkleid. Dies war eine gute Tarnung in den Randbezirken der Wälder, wo seine Art sich als Aasfresser und ›Eierdieb‹ entwickelt hatte. Das Wesen glich einem großen gerupften Vogel.
Aber der Kopf mutete beinahe menschlich an mit der hohen Stirn, die über einem spitzen, fast krokodilartigen Gesicht aufragte. Dadurch wirkte der gesamte Kopf unproportioniert. Um die Hüfte trug das Geschöpf einen Gürtel in Form einer zusammengerollten Peitsche. In den langfingrigen Händen hielt es ein Werkzeug, eine Art Speer.