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Sie versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, aber da waren zu viele unbekannte Wörter. »Wo ist euer Schamane?«

Er lachte. »Wir sind vielleicht alle Schamanen.«

Sie kamen an einer anderen freien Fläche vorbei – einem anderen ›Feld‹, wie Cahl es nannte –, wo Ziegen von einem Zaun aus hölzernen Pfählen und Dornensträuchern umgeben waren. Als sie Cahl und Juna kommen sahen, rannten die Ziegen meckernd und mit vorgestoßenen Köpfen zum Zaun. Sie hatten Hunger, das sah Juna sofort. Sie hatten das ganze Gras im Pferch abgefressen und wollten nun frei sein und im Tal und auf den Hügeln nach Nahrung suchen. Sie hatte keine Ahnung, weshalb die Leute sie hier einsperrten.

Dann erreichten sie den Talboden. Das Gras wurde immer schütterer und wich schließlich aufgewühltem Schlamm, der allenthalben mit Kot und Urin bedeckt war – menschliche Fäkalien, die man einfach hier abgeladen hatte. Als ob sie auf einem großen Abfallhaufen lebten, sagte sie sich.

Schließlich gelangten sie zur eigentlichen Siedlung. Die Hütten waren sehr solide und dauerhaft – auf Gerüsten aus Baumstämmen errichtet, die man in den schlammigen Boden gerammt hatte und mit Lehm und Stroh gedeckt. Sie hatten Löcher in den Dächern, und aus vielen quoll Rauch, obwohl es erst mitten am Tag war. Eine Hütte war eine Hütte. Aber es waren so viele, dass sie sie nicht einmal zu zählen vermochte.

Und es wimmelte nur so von Leuten.

Sie trugen die seltsame, eng anliegende und alles verhüllende Kleidung, die Cahl bevorzugte. Sie waren alle kleiner als sie, Männer und Frauen gleichermaßen, und ihre dunkle Haut war pockennarbig und zerfurcht. Viele Frauen trugen schwere Lasten. Da wurde eine kleine Frau von einem großen Sack niedergedrückt; den Sack hatte sie sich um die Stirn gebunden, und es hatte den Anschein, dass er noch mehr wog als sie. Die Männer hingegen schienen kaum mehr zu tragen, als sie in den Händen zu halten vermochten.

Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nicht so viele Leute gesehen, geschweige denn auf einem solchen Haufen zusammengedrängt. Obwohl sie sich schon eine Vorstellung von der Größe der Felder gemacht hatte, wusste sie immer noch nicht, wie so viele Leute davon leben sollten; sie mussten doch sicher alles Wild verscheuchen und alle essbaren Pflanzen im Umkreis verschlingen. Und doch sah sie geschlachtete Tiere, die vor einer Hütte aufgestapelt waren und Getreidekörbe vor einer anderen.

Und es gab hier viele Kinder. Ein paar liefen Juna sogar nach, zupften an ihrem Kleid und bestaunten ihr glänzendes Haar. Dann stimmte zumindest dies: Es gab hier wirklich mehr Kinder, als ihre Gemeinschaft je zu ernähren vermocht hätte. Jedoch hatten viele Kinder verkrümmte Knochen, pockennarbige Haut und braune Zähne. Ein paar waren mager und hatten die komischen Dickbäuche, die von mangelhafter Ernährung zeugten.

Die Männer scharten sich um Cahl und Juna und redeten in einer unverständlichen Sprache auf sie ein. Sie schienen Cahl zu gratulieren, als sei er ein erfolgreicher Jäger. Als die Männer sie lüstern angeiferten, sah sie, dass sie genauso schlechte Zähne hatten wie Cahl.

Plötzlich verlor sie die Nerven. Zu viele Leute. Sie wollte fliehen, aber die Leute setzten ihr nach und umringten sie noch enger. Kinder zogen sie kreischend an ihrem flachsblonden Haar. Sie spürte aufwallende Panik und geriet in Atemnot. Sie hielt verzweifelt Ausschau nach einem Stück Grün, aber da war kein Grün, nur diese braune Sickergrube. Die Welt drehte sich um sie. Sie kippte um und ließ Cahls Fleisch in den Dreck fallen. Sie hörte Cahls zornigen Schrei. Und die Kinder und Erwachsenen tobten noch immer um sie herum.

Langsam kam sie wieder zu sich.

Man hatte sie in eine der Hütten gebracht. Sie lag rücklings auf dem Boden und sah Tageslicht durch Risse und Fugen im Dach über sich dringen.

Und Cahl war schon wieder auf ihr und stieß sie heftig. Sein Atem roch nach Bier.

Es waren noch andere Leute in der Hütte. Sie schlichen im Zwielicht umher und redeten in einer Sprache, die sie nicht verstand. Es waren auch viele Kinder in jedem Alter da, die zusahen. Sie fragte sich, ob sie alle von Cahl waren. Eine Frau kam in ihre Nähe. Sie war von kleinem Wuchs wie die anderen und hager. Das Gesicht war schlaff und zerfurcht, und das schwarze Haar hatte sie zur Seite gekämmt. Sie brachte eine Schüssel mit einer Flüssigkeit. Sie sah älter aus als Juna…

Cahls fleischige Hand schloss sich wie ein Schraubstock um ihren Kiefer. »Sieh mich an, du Sau. Sieh mich an, nicht sie.« Und dann stieß er sie härter als zuvor.

In der Dämmerung kam die schwarzhaarige Frau, die, wie sich herausstellte, auf den Namen Gwerei hörte, wieder und weckte Juna mit einem Fußtritt in den Rücken. Juna erhob sich von der primitiven schmutzigen Pritsche, die man ihr zugewiesen hatte und versuchte die dicke Luft zu atmen, die mit dem Gestank von Schweiß und Fürzen geschwängert war.

Die Frau redete auf Juna ein, wies auf die Feuerstelle und stapfte dann verärgert über Junas Begriffsstutzigkeit aus der Hütte. Sie kehrte mit einem dicken Holzscheit zurück, das sie aufs Feuer warf. Dann schob sie die Kinder zur Seite und legte ein Loch im Boden frei, das eine Masse aus klumpigen weißen Gebilden enthielt. Zuerst glaubte Juna, das seien Pilze, vielleicht sogar essbare. Doch dann biss die Frau in eine solche Masse, brach andere und warf die Stücke den bettelnden Kindern zu.

Dann warf sie auch Juna ein Stück von dem weißen Zeug zu. Juna biss vorsichtig hinein. Es war fade und schmeckte nach nichts; es war, als ob sie in ein Stück Holz gebissen hätte. Und es war körnig und mit harten Stücken gespickt, die sie mit den Zähnen zermahlen musste. Aber sie hatte seit der letzten Rast mit Cahl auf der Hochebene nichts mehr gegessen, und der Hunger nagte an ihr. Also schlang sie die Nahrung so gierig hinunter wie die Kinder.

Das war ihr erstes Stück Brot, obwohl es noch viele Tage dauern sollte, bis sie seinen Namen erfuhr.

Während sie aßen, schnarchte Cahl auf seiner Pritsche. Es mutete Juna seltsam an, dass er bei den Frauen wohnte, aber es schien hier keine Männer-Hütte zu geben.

Nachdem sie gegessen hatten, führte Gwerei sie aus der Stadt hinaus durchs Tal und die Anhöhe auf der anderen Seite hinauf. Sie gingen schweigend, denn sie sprachen keine gemeinsame Sprache: Juna war quasi stumm und taub. Aber sie war schon froh, nur aus dem großen Ameisenhügel aus Leuten herauszukommen, der die Stadt war.

Bald schlossen sich ihnen weitere Frauen, ältere Kinder und ein paar Männer an. Sie gingen in Rinnen, die von unzähligen Füßen in den Boden gefräst worden waren. Ein paar Frauen schauten Juna neugierig an, und die Männer taxierten sie, aber sie wirkten schon erschöpft, bevor ihr Tagwerk überhaupt begonnen hatte. Sie fragte sich, wo die alle hingingen. Niemand trug irgendwelche Waffen, Speere, Schlingen oder Fallen. Sie hielten nicht einmal Ausschau nach Fährten, Spuren oder Dung, die auf die Anwesenheit von Tieren hingedeutet hätten. Sie hatten keine Augen für das Land, in dem sie lebten.

Schließlich erreichten sie das offene Gelände, das sie gestern schon erblickt hatte, die Felder. Gwerei führte sie auf eins dieser Felder, wo bereits Leute an der Arbeit waren. Gwerei gab ihr ein Werkzeug und redete wieder auf sie ein. Dazu schnitt sie Grimassen, legte die Fäuste aneinander und zog imaginäre Furchen durch die Luft.

Juna betrachtete das Werkzeug. Es glich einer Axt und hatte eine Steinklinge, die mit Sehnenschnüren und Harz an einem Holzgriff befestigt war. Aber das Ding war groß und gewiss zu schwer, um als Axt verwendet zu werden, und durch die gekrümmte Steinklinge war es nicht einmal als Stoßspeer zu gebrauchen. Während Gwerei sie frustriert anschrie, erwiderte sie den Blick nur.

Schließlich musste Gwerei ihr zeigen, wie man es machte. Sie bückte sich, packte das Werkzeug und rammte die Klinge in den Boden. Dann ging sie mit staksigem Gang und noch immer gebückt rückwärts und zog das Blatt dabei durch die Erde. Sie hatte eine Furche in den Boden gezogen.