Juna sah, dass die anderen Leute genau das gleiche taten wie Gwerei und ihre krummen Äxte durch den Boden zogen. Sie erinnerte sich, gestern schon Leute bei dieser Verrichtung gesehen zu haben. Es war eine leichte Aufgabe, die auch ein entsprechend kräftiges Kind zu verrichten vermocht hätte. Aber es war ein hartes Stück Arbeit. Sie hatten erst ein paar Schritt lange Furchen gezogen, als sie alle schon grunzten und verschwitzte und verschmutzte Gesichter hatten.
Und Juna hatte noch immer keine Ahnung, wieso sie das überhaupt taten. Aber sie nahm das Werkzeug von Gwerei entgegen und stieß das Blatt in den Boden. Dann folgte sie Gwereis Beispiel, bückte sich und zog den Stiel rückwärts, bis sie wie Gwerei eine Furche gezogen hatte. Eine Frau klatschte ironisch.
Juna gab Gwerei das Werkzeug zurück. »Ich bin fertig«, sagte sie in ihrer Sprache. »Was nun?«
Die Antwort war einfach. Sie sollte das Gleiche noch mal machen, und zwar dort, wo sie aufgehört hatte. Und immer weiter. Sie und die anderen Leute hier hatten nichts anderes zu tun, als diese Rillen in den Boden zu kratzen.
Den ganzen Tag.
Aber es war keine Kunst, im Dreck zu wühlen; da stellte sogar die einfachste Jagd, zum Beispiel das Auslegen einer Kaninchenschlinge, höhere Anforderungen. Hatten diese Leute denn gar keinen Verstand und Geist? Aber vielleicht war das auch Teil der Magie, derer die hiesigen Schamanen sich bedienten, um die reichliche Nahrung zu erzeugen, den Überfluss, der es ihnen ermöglichte, sich wie die Maden im Speck zu tummeln und scharenweise Kinder in die Welt zu setzen. Außerdem war sie hier eine Fremde, rief sie sich in Erinnerung, und musste sich an Gwereis Lebensweise anpassen – und nicht etwa umgekehrt.
Also machte sie sich wieder an die monotone, ständig sich wiederholende Arbeit. Aber die Sonne war noch nicht viel höher gestiegen, als sie sich schon danach sehnte, aus dieser Fron entlassen zu werden und wieder frei über die Hochebene zu streifen. Und nachdem sie ihren Körper – eine hoch spezialisierte, für ständige Bewegung ausgelegte Maschine – einen Tag lang dieser Schinderei unterworfen hatte, wurden die Schmerzen so stark, dass Juna nur noch vom Wunsch beseelt war, dass sie endlich aufhörten.
Am nächsten Tag führte man sie zu einem anderen Feld und wies ihr die gleiche stumpfsinnige Arbeit zu. Und am übernächsten wieder.
Und auch am darauf folgenden Tag.
Das war Ackerbau: primitiv, aber eindeutig Ackerbau. Diese neue Lebensweise war allerdings nicht geplant worden. Sie hatte sich Schritt für Schritt ergeben.
Schon zu Kieselsteins Zeiten, noch vorm Erscheinen des modernen Menschen, hatten Leute die von ihnen bevorzugten wilden Pflanzen gesammelt und andere beseitigt, die den Nutzpflanzen Konkurrenz machten. Die Domestizierung von Tieren hatte ähnlich zufällig stattgefunden. Hunde hatten gelernt, mit Menschen zu jagen und waren dafür belohnt worden. Ziegen hatten gelernt, Menschen wegen der Abfälle zu folgen, die diese hinterließen, und die Menschen hatten wiederum gelernt, nicht nur das Fleisch, sondern auch die Milch der Ziegen zu nutzen. Für Jahrhunderttausende hatten die Menschen unbewusst die Pflanzen- und Tierarten ausgewählt, die für sie am nützlichsten waren. Und nun war dieser Prozess bewusst geworden.
Es hatte in einem Tal nicht weit von hier angefangen. Für Jahrhunderte hatten die Menschen dort sich eines stetig erwärmenden Klimas und eines reichhaltigen Nahrungsangebots aus Nüssen, wildem Getreide und Wildbret erfreut. Doch dann hatten plötzlich Trockenheit und Abkühlung eingesetzt. Die Wälder waren geschrumpft. Die natürlichen Nahrungsquellen drohten zu versiegen.
Also hatten die Leute ihre Anstrengungen auf die von ihnen bevorzugten Getreidesorten gerichtet, die Sorten mit großen Körnern, die man leicht von den Spelzen zu trennen vermochte und mit nicht streuenden Ähren, die die Körner zusammenhielten. Diese Pflanzen hegten sie und jäteten die unerwünschten Pflanzen in ihrer Umgebung aus.
Erbsen waren ebenfalls eine frühe ›Erfolgsgeschichte‹. Die Schoten von Wilderbsen platzten und verteilten die Erbsen auf dem Erdboden, wo sie keimten. Leute bevorzugten indes Mutationen, deren Schoten nicht platzten und die somit leichter zu sammeln waren. In der Wildnis keimten solche Erbsen nicht, gediehen aber in menschlicher Pflege. Gleichermaßen wurden nicht platzende Varianten von Linsen, Flachs und Mohn bevorzugt.
Indem sie die Samen der von ihnen bevorzugten Pflanzen verbreiteten und die der unerwünschten ausrotteten, hatten die Leute eine Selektion in Gang gesetzt. Und die Pflanzen passten sich sehr schnell an. Nach nur einem Jahrhundert hatten sich bereits großkörnige Getreidesorten wie Roggen entwickelt. Manche Pflanzen wurden wegen der Größe ihrer Samen bevorzugt, wie zum Beispiel Sonnenblumen und andere gerade wegen der Kleinheit der Samen – wie zum Beispiel Bananen. Hier wurden die Früchte der Pflanzen genutzt und nicht die Samen. Manche Gene, die früher sogar tödlich gewesen wären, wurden nun bevorzugt, wie die für die nicht platzenden Erbsenschoten.
Die ersten Roggenpflanzer waren aber nicht sofort sesshaft geworden. Für eine Weile hatten sie sich noch als Jäger und Sammler betätigt, während sie Ackerbau trieben. Die neuen Felder hatten als ›Speisekammer‹ gedient, als Vorsorge gegen das Hungern in schlechten Zeiten: Wie bei allen Neuerungen hatte die Landwirtschaft sich aus den Praktiken entwickelt, die ihr vorausgegangen waren.
Aber die Kultivierung des Landes hatte sich als so effektiv erwiesen, dass man sich ihr bald ausschließlich widmete. Die meisten wilden Pflanzen waren ungenießbar – doch neun Zehntel der Ernte, die ein Landmann einbrachte, waren essbar. Aus diesem Grund vermochten diese Leute sich auch so viele Kinder zu leisten: Davon lebte dieser große Ameisenhügel von Stadt.
Das war die revolutionärste Umwälzung in der Lebensart der Hominiden, seit Homo erectus den Wald verlassen und sich in die Savanne hinausgewagt hatte. Im Vergleich zu dieser Phasenverschiebung waren die Fortschritte in der Zukunft, sogar die Gentechnik, bloße Randnotizen. Es würde nie mehr eine so signifikante Veränderung eintreten, nicht bis die Menschen vom Antlitz der Erde verschwunden sein würden.
Indes wurde die Erde durch die Revolution des Ackerbaus nicht zum Paradies.
Ackerbau bedeutete Arbeit: eine endlose, knochenharte Plackerei – und das jeden Tag. Nachdem die Menschen den Erdboden von allem befreit hatten außer von dem, was sie anbauen wollten, mussten sie nun die Arbeit verrichten, die zuvor die Natur für sie übernommen hatte: den Boden lüften, Krankheiten bekämpfen, düngen, Unkraut jäten. Ackerbau bedeutete, das ganze Leben, alle Fertigkeiten, die Freude am Laufen, die Freiheit, zu tun und lassen, was man wollte, der Fron auf den Feldern zu opfern.
Und dabei war die Nahrung, die man dem Boden so mühsam entrang, gar nicht mal so nahrhaft. Während die alten Jäger und Sammler eine ausgewogene Nahrung mit genügend Mineralstoffen, Protein und Vitaminen zu sich genommen hatten, lebten die Bauern hauptsächlich von stärkehaltigen Pflanzen: Es war, als ob sie teure, qualitativ hochwertige Nahrung gegen eine Kost eingetauscht hätten, die zwar reichlich, aber minderwertig war. Infolgedessen und wegen der harten Arbeit waren sie nicht mehr so gesund wie ihre Vorfahren. Sie hatten schlechte Zähne und wurden von Blutarmut geplagt. Die Ellbogen der Frauen waren durch das ständige Mahlen verschlissen. Die Männer litten unter starkem sozialem Stress, der sich in häufigen Schlägereien und Morden entlud.
Im Vergleich zu ihren großen und gesunden Vorfahren bauten die Leute wirklich ab.
Und dann waren da noch die Todesfälle.
Es stimmte, dass die Mütter ihre Babys nicht opfern mussten. Vielmehr wurden die Frauen ermutigt, möglichst schnell möglichst viele Kinder in die Welt zu setzen, denn Kinder erfüllten den endlosen Bedarf an Arbeitskräften für die Felder: Mit dreißig Jahren waren viele Frauen wegen der endlosen Belastung durch Schwangerschaften und der Aufzucht von Kindern schon ausgezehrt.