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Aber so viele geboren wurden, so viele starben auch. Es dauerte nicht lang, bis Juna das erkannt hatte. Krankheit war bei Junas Leuten die Ausnahme gewesen – doch hier, an diesem überfüllten, schmutzigen Ort war sie der Normalfall. Man vermochte fast zu sehen, wie sie sich ausbreitete: Die Leute schnieften und husteten, kratzten sich an nässenden Wunden und verseuchten mit ihrem Durchfall das Wasser der Nachbarn. Am stärksten betroffen waren die Schwachen, die Alten und Kranken. Viele Kinder starben, viel mehr als bei Junas Leuten.

Und es gab kaum eine Handvoll Leute, die so alt waren wie ihre Großmutter. Juna fragte sich, was mit der ganzen Weisheit geschah, die verloren ging, wenn die Alten in so großer Zahl und so früh starben.

Die Tage gingen ins Land, einer so monoton wie der andere. Die Arbeit war Routine. Freilich war alles hier Routine, tagein, tagaus der gleiche Trott.

Cahl bestieg sie fast jede Nacht. Aber er schien sich schwer zu tun. Manchmal stürzte er sich auf sie, warf sie auf den Boden und riss ihr das Kleid vom Leib, oder er drehte sie auf den Bauch und nahm sie von hinten. Es war, als ob er sich an ihr abreagierte, nur um sich selbst zu befriedigen. Doch wenn er zu viel Bier getrunken hatte, regte sich bei ihm gar nichts mehr.

Er war im Grunde genommen ein schwacher Mann, wurde sie sich bewusst. Er hatte zwar Macht über sie, aber sie fürchtete ihn nicht. Zuletzt war es für sie zur Routine geworden, dass er sie nahm; es war nur noch ein Teil ihres Lebenshintergrunds. Trotzdem war sie froh, dass sie nicht von ihm schwanger werden konnte – nicht solang Toris Kind in ihr heranwuchs.

Als sie eines Tages mühsam den steinernen Pflug durch trockenen, steinigen Boden zog, kamen laut blökende Schafe über eine Anhöhe gerannt. Die Feldarbeiter, denen eine Pause immer gelegen kam, richteten sich auf und schauten hin. Sie lachten, als die Schafe auf der Suche nach Gras über den unebenen Boden stolperten und sich gegenseitig anrempelten.

Plötzlich ertönte wildes Gebell. Ein Hund hetzte über die Anhöhe, gefolgt von einem Jungen mit einem Hirtenstab. Unter dem Gelächter, Beifall und den Pfiffen der Arbeiter jagten der Junge und der Hund den Schafen hinterher.

Gwerei kam zu Juna und sah ihr verwirrtes Gesicht. Dann deutete sie gar nicht mal unfreundlich auf die Schafe: »Owis Kludhi.« Sie zählte die einzelnen Schafe mit den Fingern ab. »Oynos. Dwo. Treyes. Owis.« Dann stupste sie Juna an und versuchte ihr eine Reaktion zu entlocken.

Juna mit dem schmerzenden Rücken und dem verfilzten Haar verstand die Welt nicht mehr. »Was ist los?«

Doch diesmal verlor Gwerei erstaunlicherweise nicht die Geduld. »Owis. Kludhi. Owis.«

Und dann sprach sie in ihrer Zunge zu Juna, aber viel langsamer und deutlicher als sonst – und sie streute zu Junas Überraschung sogar ein paar Worte aus deren Sprache ein, die sie vermutlich von Cahl aufgeschnappt hatte. Sie versuchte, Juna etwas mitzuteilen – etwas sehr Wichtiges.

Juna fügte sich und hörte ihr zu. Es dauerte eine lange Zeit. Allmählich reimte sie sich jedoch zusammen, was Gwerei ihr zu vermitteln versuchte. »Lerne die Sprache. Lerne durch Zuhören. Weil das nämlich der einzige Weg ist, von Cahl loszukommen. Hör zu…«

Zögerlich nickte sie. »Owis«, wiederholte sie. »Schafe. Owis. Eins, zwei, drei…«

Und so lernte Juna ihre ersten Worte in der Sprache von Gwerei und Cahl, diesen ersten Bauern: die ersten Worte in einer Sprache, die eines Tages als Proto-Indoeuropäisch bezeichnet werden sollte.

Die Zeit verstrich, und ihr Bauch wurde immer dicker. Er behinderte sie bei der Feldarbeit, und sie wurde immer schwächer. Die anderen Frauen sahen das, und ein paar murrten auch, obwohl die meisten Frauen Verständnis dafür zu haben schienen, dass Junas Leistung nachließ.

Aber sie machte sich trotzdem Sorgen. Was würde Cahl nach der Geburt des Kinds wohl tun? Würde er sie auch ohne einen dicken Bauch noch so reizvoll finden? Falls er sie verstieß, wäre sie in einer genauso schlechten Situation, als wenn sie einfach in der Hochebene geblieben wäre – und vielleicht in einer schlechteren, nach der monatelangen Mangelernährung, zermürbenden Arbeit und an einem Ort, den sie weder kannte noch verstand. Diese Sorge beherrschte bald ihr ganzes Denken, genauso wie das wachsende Kind ihr die Kraft aus dem Leib zu saugen schien.

Und dann kam der Fremde mit der glänzenden Halskette in die Stadt.

Es war am Abend. Sie schlurfte wie immer schmutzig und erschöpft von den Feldern zurück.

Cahl steuerte auf die Hütte des Bierbrauers zu. Juna hatte einen Blick auf die großen hölzernen Bottiche in der Hütte erhascht, wo der Bierbrauer und andere unidentifizierbare Substanzen zu seinem Weizenbier vergor. Im Gegensatz zu Acta und den anderen schien das Bier kaum Wirkung bei Cahls Leuten zu haben – jedenfalls nicht, bevor sie ordentlich abgefüllt waren. Kein Wunder, dass es eine so nützliche Handelsware für Cahl war: billig in der Herstellung und heiß begehrt von Acta.

Doch an diesem Abend war Cahl in Begleitung eines Manns – er war so groß wie sie, wenn auch etwas kleiner als die meisten Männer von Junas Leuten. Sein Gesicht war glatt rasiert, und das lange schwarze Haar war am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Er sah jung aus, bestimmt nicht viel älter als sie. Er hatte einen klaren, wachsamen Blick. Und er trug eine außergewöhnliche Bekleidung aus weich gegerbten Tierhäuten, die sorgfältig vernäht und mit stilisierten tanzenden Tieren in Rot, Blau und Schwarz verziert waren. Sie mochte gar nicht daran denken, wie viele Stunden Arbeit in diese Bekleidung gesteckt worden waren.

Was sie aber am meisten beeindruckte, war die Halskette, die er trug. Es war eine schlichte Kette aus durchlöcherten Muscheln. Doch in der mittleren Muschel, direkt unterm Kinn, war ein Klumpen aus einem Stoff befestigt, der hellgelb glänzte und das Licht der tief stehenden Sonne widerspiegelte.

Cahl beobachtete sie. Er ließ den jungen Mann schon mal zur Hütte des Bierbrauers vorausgehen. »Er gefällt dir, was?«, quatschte er sie in ihrer Sprache ölig an. »Und das Gold an seinem Hals gefällt dir wohl auch? Ich kann mir auch vorstellen, dass du seinen schlanken Schwanz meinem vorziehen würdest? Sein Name ist Keram. Aber das hilft dir auch nichts. Er ist aus Cata Huuk. Du weißt aber nicht, wo das ist, nicht wahr? Und du wirst es auch nie erfahren.« Er griff ihr grob zwischen die Beine. »Halt du dich nur für mich warm.« Dann stieß er sie zurück und ging davon.

Sie hatte seinen letzten Übergriff kaum gespürt. Keram. Cata Huuk. Im Geiste wiederholte sie die seltsamen Namen immer wieder.

Denn sie hatte den Eindruck, dass – just in dem Moment, als er sich umdrehte und zur Brauerei ging – der junge Mann zu ihr herübergeschaut hatte und seine Augen in einer Art Erkennen sich geweitet hatten.

Nach einem Vierteljahr reiste Keram wieder von Cata Huuk zur Stadt.

Er hatte den Auftrag eigentlich ablehnen wollen. Als jüngster Sohn des Potus bekam er immer die schlechtesten Aufträge, und das Eintreiben der Tributzahlungen von diesen entlegenen Orten im Hinterland der Stadt war so ziemlich der mieseste Job überhaupt.

»Und dieses Kaff«, sagte er zu seinem Freund Muti, »ist das allerletzte. Schau es dir doch nur an.« Der Ort am Ufer des Flusses war nur eine Ansammlung schmutzigbrauner Hütten, deren Konturen vom Regen verwischt worden waren. Stinkender Rauch quoll aus den Dächern. »Weißt du, wie dieser Ort heißt? Keer.« Dieses Wort bedeutete ›Herz‹ in der Sprache, die die beiden jungen Männer sprachen – eine Sprache, die in einem breiten Gürtel der Kolonisierung gesprochen wurde, der sich von diesem Ort aus weit nach Osten erstreckte.