Keram pfiff sie zurück. »Das ist ihre Arbeit.«
Juna zuckte die Achseln. »In Cahls Stadt wäre es meine Arbeit.«
»Ich bin aber nicht Cahl. Du musst dich unsren Sitten und Gebräuchen anpassen, Mädchen.«
»Ich wurde als Kind aus…«
»Ich erinnere mich daran, was du mir gesagt hast«, sagte Keram und wölbte belustigt die Augenbrauen. »Ich weiß nicht, ob ich auch nur ein Wort davon glauben soll. Aber hör mir nun zu. In Cata Huuk ist das Wort des Potus Gesetz. Und ich bin der Sohn des Potus. Du wirst mir gehorchen. Du wirst meine Entscheidungen nicht in Frage stellen. Hast du verstanden?«
Junas Leute waren gleichberechtigt wie die meisten Jäger und Sammler, und deshalb verstand sie nicht. Aber sie nickte brav.
Sie brachen auf. Die jungen Männer, die keine Last zu tragen hatten, schritten zügig aus. Juna ebenfalls, trotz der Schwangerschaft und der vier Monate, die sie mit schlechter Nahrung und harter Arbeit verbracht hatte. Doch die Wachen schnauften und beklagten sich über schmerzende Füße.
Es war eine große Erleichterung für Juna, der dreckigen Stadt entronnen zu sein und sich wieder in der freien Natur zu befinden. Es war eine große Erleichterung, zu gehen, anstatt auf einem staubigen Feld den Rücken krumm zu machen – auch wenn die Landschaft auf dem Marsch nach Osten eine immer geringere Ähnlichkeit mit dem Ort hatte, an dem sie und ihre Vorfahren immer gelebt hatten.
Sie übernachteten jedes Mal in kleinen Städten, die genau so aussahen wie Cahls Stadt. Die Soldaten vergnügten sich mit Bier und Mädchen. Keram und Muti hielten sich zurück und verbrachten die Nächte jedes Mal in einer Hütte, wobei sie Juna einen Schlafplatz in einer Ecke zuwiesen.
Keiner von beiden rührte sie an. Vielleicht lag es an der Schwangerschaft. Vielleicht trauten sie sich auch nur nicht. Sie war froh, von Cahls brutaler ›Zuwendung‹ erlöst zu sein und legte im Moment keinen Wert auf körperliche Nähe. Andererseits bedauerte sie es unter dem praktischen Gesichtspunkt auch. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie dieser Ort, dieses Cata Huuk aussah. Aber sie sagte sich, dass ihre Überlebenschancen am besten wären, wenn sie sich an Keram oder Muti hielt.
Also sorgte sie dafür, dass sie ihnen jeden Morgen und Abend, wenn sie das Kleid auszog, ihren Körper zeigte. Und sie wusste auch, dass Kerams Blick auf sie fiel, auch wenn er glaubte, dass sie es nicht bemerkte.
Je weiter sie kamen, desto dichter war die Landschaft mit Feldern und Dörfern durchsetzt. Es wuchsen hier keine Bäume, aber es gab Baumstümpfe und Flächen brandgerodeten Waldes. Offenes Land gab es hier überhaupt keins, außer wertlosen Steinwüsten und Marschen. Es gab nur Felder und Landstücke, die offensichtlich einmal bestellt worden waren, aber nun ausgelaugt waren und brach lagen. Bald vermochte sie kaum noch einen Schritt zu tun, ohne in die Fußstapfen eines ›Vorgängers‹ zu treten. Das Ausmaß, in dem diese schwärmenden Leute die Welt verändert hatten, erschreckte sie.
Und schließlich erreichten sie Cata Huuk selbst.
Das Erste, was Juna sah, war eine Mauer. Sie bestand aus Lehmziegeln und Stroh und war ein großer kreisförmiger Wall, der so hoch war wie drei Leute, die auf den Schultern des jeweils anderen standen. Und sie war mit angespitzten Pfählen gespickt. Der Wall war von einem Ring aus schäbigen Hütten und Verschlägen aus Lehm und Ästen umgeben. Die Mauer war so lang, dass sie das Land zu teilen schien.
Ein breiter, ausgetretener Pfad führte zum Wall hinauf. Diesem Pfad folgte Kerams Gruppe nun. Bei ihrer Annäherung quollen Leute wie aufgescheuchte Ameisen aus den Hütten. Sie stießen Schreie aus, zupften an Kerams Kleidung und boten ihnen Fleisch, Früchte und Süßigkeiten dar sowie Figuren aus Holz und Stein. Juna zuckte zurück. Doch Keram versicherte ihr, dass sie keine Angst haben müsse. Diese Leute wollten nur etwas verkaufen; dies sei nämlich ein Markt.
Ein großes Holztor war in die Mauer eingelassen. Keram stieß einen lauten Ruf aus. Ein Mann auf der Mauerkrone winkte, und das Tor wurde geöffnet. Die Gruppe marschierte hindurch.
Juna tauchte in eine fremde Welt ein. Sie zitterte.
Die Hütten – die stachen ihr sofort ins Auge. Es waren viele, viele Dutzend, die über die weite Fläche innerhalb der Mauern verstreut waren. Die meisten waren nicht besser als Cahls Behausung, unförmige Bauten aus Lehm und Holz. In Richtung Stadtmitte gab es aber ein paar, die geradezu repräsentativ wirkten: windschiefe Bauten mit zwei oder drei Stockwerken, deren Fassaden mit geflochtenen gelben Gräsern verziert waren, die in der Sonne leuchteten. Die Ansammlungen der Hütten wurden von Straßen durchschnitten, die wie ein Spinnennetz anmuteten. Eine graue Rauchwolke hing über der Stadt. Abwässer liefen durch Kanäle in der Straßenmitte, und Fliegen summten in Wolken über dem träge rinnenden Unrat.
Und überall schwärmten Leute: Die Männer traten in Gruppen auf, die Kinder lärmten und rannten umher, und die Frauen trugen schwere Lasten auf Kopf und Rücken. Es gab auch Tiere; sie waren genauso zahlreich waren wie die Menschen. Der Lärm war enorm, eine richtige Kakophonie. Die Gerüche – nach Kot, Urin, Tieren, Rauch und dem fettigen Gestank gebratenen Fleischs – waren überwältigend.
Dies war Cata Huuk. Mit zehntausend Menschen, die in den Mauern sich drängten, war es eine der ersten Städte der Erde. Nicht einmal Keer hatte sie darauf vorzubereiten vermocht.
Keram lächelte sie an. »Geht es dir gut?«
»Was für ein trickreicher Gott hat nur diesen wuselnden Haufen erschaffen?«
»Kein Gott. Menschen, Juna. Viele, viele Menschen. Das musst du dir merken. Egal, wie fremdartig das alles dir auch erscheint, es ist das Werk von Menschen wie du und ich. Außerdem«, sagte er mit gespielter Naivität, »bist du doch hier geboren. Hier gehörst du hin.«
»Hier bin ich geboren«, sagte sie, jedoch ohne allzu große Überzeugungskraft. »Aber ich fürchte mich trotzdem. Ich kann mir nicht helfen.«
»Ich bin bei dir«, murmelte er.
Mit kühler Überlegung schob sie die Hand in die seine. Dabei trafen sich ihr und Mutis Blick; er lächelte wissend.
Sie gingen eine radiale Straße auf die Gebäude in der Stadtmitte zu. Nun war Juna wirklich baff. Diese Bauwerke mit ihren drei Stockwerken dräuten wie Riesen über dem Rest der Stadt. Die Bauten waren in einem lockeren Geviert um einen zentralen Hof angelegt, der dicht mit Gras und Blumen bewachsen war. Mit Speeren bewaffnete Männer standen an jedem Eingang und schauten argwöhnisch. Frauen gingen mit Wasserkrügen durchs Gras und benetzten es.
Muti grinste Juna an. »Sie guckt schon wieder. Was gibt es denn diesmal?«
»Das Gras. Wieso bewerfen sie es mit Wasser?« Sie rang nach Worten. »Regen fällt. Gras wächst.«
Muti schüttelte den Kopf. »Nicht regelmäßig genug für den Potus. Ich glaube, er würde am liebsten selbst das Wetter machen.«
Sie betraten das größte Gebäude. Juna war noch nie in einem so großen umbauten Raum gewesen. Treppen und Leitern verbanden die halbgeschossartigen Flure miteinander. Trotz des Tageslichts brannten qualmende Fackeln an den Wänden. Sie warfen Schatten und tauchten den Palast in ein gelbes Licht. Mit glänzenden Gewändern bekleidete Leute bewegten sich auf allen Stockwerken; ein paar winkten Keram und Muti beim Vorbeigehen zu. Es war wie der Blick ins Geäst eines großen Baums. Selbst der Boden war außergewöhnlich: Er bestand aus glänzendem Holz, das so glatt gehobelt und mit Öl oder Fett imprägniert war, dass sie fast darauf ausglitt.
Sie betraten das Innerste des Gebäudes. Hier war eine Plattform, die sich schulterhoch über den Fußboden erhob. Und auf der Plattform saß auf einem kunstvoll verzierten Holzblock der dickste Mann, den Juna je gesehen hatte. Er hatte größere Titten als eine Amme. Der von Öl glänzende Bauch war kugelrund. Und der kahle Kopf sah aus wie eine übergroße Billardkugel. Er hatte keinen Bart und nicht einmal Augenbrauen. Er hatte einen freien Oberkörper, trug aber eine sorgfältig vernähte Hose.