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Diese feiste Kreatur war der Potus, der Mächtige. Er war einer der ersten Könige der Menschheit. Er sprach gerade zu einem dürren Männchen neben sich, das mit großer Konzentration Knotenschnüre abtastete.

Keram und Muti warteten geduldig, bis Potus ihnen seine Aufmerksamkeit widmete.

»Was machen sie denn mit der Schnur?«, wisperte Juna.

»Das sind Bücher«, flüstert Muti. »Sie enthalten… hm… die Arbeitsleistung der Stadt und der Farmen. Die Anzahl der Schafe und Ziegen. Der erwartete Ertrag der nächsten Ernte. Die Anzahl der neugeborenen Kinder und der Toten…« Er lächelte angesichts der großen Augen, die sie machte. »Unsere Geschichten sind in diesen Schnüren enthalten, Juna. So läuft das in Cata Huuk.«

Keram knuffte ihn. Der Mann mit der Knotenschnur hatte sich zurückgezogen, und der massige Schädel des Potus war zu ihnen herübergeschwenkt. Keram und Muti verneigten sich unverzüglich. Juna blieb stehen, bis Keram sie zu sich herunterzog.

»Sie soll ruhig stehen bleiben«, sagte der Potus. Seine Stimme war wie das Knirschen von Flusskieseln. Er schaute Juna an und winkte sie zu sich.

Zögernd trat Juna vor.

Er beugte sich über sie. Sie roch Tieröl auf seiner Haut. Dann zog er sie so fest an den Haaren, dass sie aufschrie. »Wo habt ihr die her?«

Keram gab ihm eine kurze Schilderung der Ereignisse in Keer. »Potus, sie sagt, dass sie hier geboren sei – hier in Cata Huuk. Sie sagt, dass sie als Baby entführt worden sei. Und…«

»Zieh dich aus«, herrschte der Potus Juna an.

Sie funkelte ihn an, angewidert von seinem Geruch und verweigerte den Befehl. Doch Muti riss ihr hastig das lederne Kleid vom Leib, sodass sie nackt vor ihm stand.

Der Potus nickte, als begutachtete er eine Jagdbeute. »Gute Brüste. Guter Wuchs, gute Figur – und ein Junges im Bauch, wie ich sehe. Glaubst du ihr, Keram? Mir ist noch nie zu Ohren gekommen, dass ein solches Kind entführt worden sein soll… wann, vor fünfzehn, sechzehn Jahren?«

»Mir auch nicht«, sagte Keram.

»Man sagt, die Wilden jenseits der Felder hätten diese Gestalt. Sie seien groß und wirkten sehr gesund, trotz ihrer abscheulichen Lebensweise.«

»Falls sie eine Wilde ist, ist sie aber eine schlaue Wilde«, sagte Keram bedächtig. »Ich sagte mir, ihre Geschichte würde Euch erheitern.«

»Es ist die Wahrheit!«, sagte Juna.

Der Potus stieß ein bellendes Lachen aus. »Sie spricht sogar.«

»Sie spricht gut. Sie ist klug, Herr, und…«

»Tanz für mich, Mädchen.« Als Juna ihn nur wortlos und finster anschaute, sagte der Potus mit metallischer Härte: »Tanz für mich, oder ich werde dich sofort von hier wegbringen lassen.«

Juna begriff kaum, was hier überhaupt vor sich ging. Sie wusste jedoch, dass ihr Leben davon abhing, wie sie sich nun verhielt.

Also tanzte sie. Sie erinnerte sich an die Tänze, die sie und ihre Schwester Sion als Kinder aufgeführt hatten und an Tänze, die vom Schamanen initiiert worden waren und an denen sie als junge Erwachsene teilgenommen hatte.

Nach einer Weile grinste der Potus. Und dann klatschten er, Keram und Muti im Rhythmus ihrer nackten Füße, die auf den polierten Holzboden patschten.

Nackt und in einer anderen Welt gestrandet tanzte sie bis zur Erschöpfung.

Von Anfang an war es Juna ganz klar, dass, wenn sie gesund bleiben, gut ernährt werden und von der Geißel endloser, monotoner Knochenarbeit verschont werden wollte, sie sich nach Möglichkeit der Gunst von Potus erfreuen musste.

Also machte sie sich so interessant wie irgend möglich. Sie kramte in ihren Erinnerungen nach Fähigkeiten und Fertigkeiten, die bei ihren Leuten der Brauch gewesen waren, mit denen sie bei diesen Bienenstock-Bewohnern aber Eindruck zu schinden vermochte. Sie organisierte Langstreckenläufe, die sie – obwohl sie hochschwanger war – mit verblüffender Leichtigkeit gewann. Sie fertigte Speerschleudern an und stellte ihr Geschick mit dem Wurf auf Ziele unter Beweis, die so klein und entfernt waren, dass die meisten Höflinge des Potus sie nicht einmal zu sehen vermochten. Dann fertigte sie aus Steinen, Holz und Muscheln ohne Werkzeug Klingen, Skulpturen und Reliefs. Damit verzauberte und erstaunte sie diese Leute, die sich schon so weit von den natürlichen Lebensgrundlagen entfernt hatten.

Und dann wurde ihr Kind geboren. Es war ein gesunder Junge, der irgendwann vielleicht Tori, seinem Vater ähneln würde. Schon im frühen Kindesalter unterwies sie ihn im Laufen, Tanzen und Speerwerfen.

Und als sie schließlich Keram in ihr Bett lockte, als er ihr die Lügen verzieh, mit denen sie ihn veranlasst hatte, sie hierher zu bringen und als sie ihm nach einem Jahr ein Kind gebar, hatte sie das Gefühl, dass ihr Platz in der Mitte dieses Menschen-Nests sicher sei.

Und was die Stadt betraf, so brauchte Juna nicht lang, um hinter die Kulissen dieses überfüllten Bienenstocks zu schauen.

Dies war eine Klassengesellschaft mit einer starren Hierarchie und absolutistischen Merkmalen. Die Masse der hier lebenden Menschen musste Frondienste leisten, um den Potus, seine Frauen, Söhne, Töchter, Verwandte und seinen ganzen Hofstaat zu ernähren – und dazu die Priesterkaste, das geheimnisvolle Netzwerk schamanenartiger Mystiker, die ein noch feudaleres Leben zu führen schienen als der Potus selbst.

Das hatte aber so kommen müssen. Mit der Kultivierung der Pflanzen war das Land viel produktiver geworden. Die natürlichen Regulative, die das Wachstum der Populationen begrenzt hatten, waren mit einem Mal außer Kraft gesetzt worden. Die Zahl der Menschen explodierte förmlich.

Plötzlich vermehrten die Menschen sich nicht mehr wie Primaten. Sie vermehrten sich wie Bakterien.

Die verdichteten Populationen bildeten eine neue Art von Gemeinschaften: Es entstanden Bevölkerungszentren wie Dörfer und Städte, die durch einen steten Fluss von Lebensmitteln und Rohstoffen vom Land versorgt wurden.

Nie zuvor waren die Menschen in solchen Größenordnungen aufgetreten und hatten ein derart komplexes Beziehungs-Geflecht ausgebildet. Und in den Städten etablierte sich zwangsläufig eine neue Form der sozialen Organisation. In Gemeinschaften wie der, welcher Juna entstammte, war die Entscheidungsfindung gemeinschaftlich und die Führung informell gewesen, weil jeder jeden kannte. Verwandtschaftliche Beziehungen hatten in den meisten Fällen genügt, um Konflikte beizulegen. In größeren Gruppen übernahmen Kaziken die Kontrolle, um das ›öffentliche Leben‹ zu regeln.

Doch nun war es nicht mehr möglich, dass alle sich an allen Entscheidungen beteiligten. Es hatte keinen Sinn mehr, dass jede Familie ihre eigene Nahrung anbaute und sammelte, dass sie ihre eigenen Werkzeuge und Bekleidung anfertigte und auf eigene Rechnung mit den Nachbarn Handel trieb. Und jeden Tag mussten die Menschen damit rechnen, Fremden zu begegnen und sich mit ihnen arrangieren zu müssen, anstatt sie wie in den alten Zeiten zu verjagen oder gleich umzubringen. Die alten verwandtschaftlichen Loyalitäten genügten nicht mehr: Es bedurfte einer Art Polizeigewalt, um die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Schnell entstanden zentrale Kontrollinstanzen. Macht und Ressourcen konzentrierten sich zunehmend in den Händen einer Elite. Fürsten und Könige etablierten sich und beanspruchten ein Monopol auf Entscheidungen, Information und Macht. Eine neue Art der Verteilungswirtschaft bildete sich heraus. Es entstanden politische Organisationen, ein schneller technischer Fortschritt kam in Gang, und der Grundstein für Schrift, Bürokratie und Steuerwesen wurde gelegt: Die Mittel, derer die Menschen sich bedienten, erlebten eine Explosion der funktionalen Differenzierung.