Und zum ersten Mal in der Geschichte der Hominiden gab es Leute, die für ihre Nahrung nicht arbeiten mussten.
Seit dreißigtausend Jahren hatte es nun schon Religion, Kunst, Musik, mündliche Überlieferung und Kriege gegeben. Doch nun vermochten die neuen Gesellschaften sich Spezialisten zu leisten: Leute, die nichts anderes taten als zu malen oder Melodien für Flöten aus Knochen und Holz zu komponieren oder über das Wesen eines Gottes Spekulationen anzustellen, der einer unwürdigen Menschheit das Geschenk des Feuers und des Ackerbaus vermacht hatte. Aus dieser Tradition sollte sich schließlich ein Großteil der Schönheit und Größe des menschlichen Potenzials manifestieren. Zugleich würde sie aber auch Armeen berufsmäßiger Mörder aus Leidenschaft hervorbringen, von denen Kerams Soldaten nur die Vorhut waren.
Und fast überall und von Anfang an wurden die neuen Gemeinschaften von Männern dominiert: Männer konkurrierten untereinander um die Macht, in Gesellschaften, in denen Frauen mehr oder weniger als eine Ressource betrachtet wurden. In den Zeiten der Jäger und Sammler hatten die Menschen sich für kurze Zeit aus dem Gefängnis der männlichen Primaten-Hierarchien befreit. Gleichheit und gegenseitiger Respekt waren kein Luxus gewesen: In den Gemeinschaften der Jäger und Sammler existierte eine strukturelle Gleichberechtigung, weil es nämlich im offensichtlichen Interesse aller lag, Nahrung und Wissen zu teilen. Doch diese Zeiten neigten sich nun dem Ende zu. Auf der Suche nach neuen Organisationsformen für ihre anschwellende Zahl fielen die Menschen in die ebenso bequemen wie geistlosen Muster der Vergangenheit zurück.
Die städtischen Verdichtungen waren eine völlig neue Lebensweise. Die Hominiden im Besonderen und die Primaten im Allgemeinen hatten noch nie auf so dichten Haufen zusammengelebt. Zugleich war das aber auch ein Rückfall in die graue Vorzeit. Die neuen Städte hatten nämlich weniger Ähnlichkeit mit den Gemeinschaften der Jäger und Sammler als vielmehr mit den Schimpansen-Kolonien im Urwald.
Junas vermeintliche Sicherheit währte ganze vier Jahre.
In dunkler Nacht rüttelte Keram sie wach. »Komm. Hol die Kinder. Wir müssen von hier verschwinden.«
Juna setzte sich verschlafen auf. Am Abend zuvor hatten sie eine Party gegeben, und Juna hatte mehr getrunken, als ihr zuträglich war. Nur Gesellschaften, die Ackerbau betrieben, vermochten alkoholische Getränke herzustellen, denn sie benötigten hierzu Getreide – einer der größten Vorteile der Bauern gegenüber den Jägern, die vom Bier abhängig geworden waren, ohne indes in der Lage zu sein, selbst welches zu brauen. Was Juna betraf, so war das ein Luxus, an den sie sich erst noch gewöhnen musste.
Sie schaute sich um, versuchte richtig wach zu werden und einen klaren Kopf zu bekommen. Im Raum war es dunkel, doch es fiel Licht durchs Fenster. Aber kein Tageslicht, sondern Feuerschein.
Und nun hörte sie auch das Geschrei.
Sie stieg aus dem Bett und streifte sich ein Hemd über. Dann ging sie ins Nebenzimmer und weckte die Kinder. Die beiden Jungen quengelten wegen dieser Ruhestörung und schliefen dann wieder in ihren Armen ein. Sie ging zu Keram zurück, der gerade Waffen und Wertsachen in einen Sack stopfte. »Ich bin fertig«, sagte sie.
Er schaute sie an, wie sie mit den Kindern im Arm vor ihm stand. Er lief zu ihr und küsste sie fest auf den Mund. »Ich liebe dich, bei den Eiern des Potus. Falls er überhaupt noch welche hat.«
Sie wunderte sich über diesen Gedankensprunn. »Was soll er noch haben?«
»Das ist eine schlechte Nacht für Cata Huuk«, sagte er grimmig. »Und für uns, wenn wir Pech haben.« Er drehte sich um, schulterte den Sack und ging zur Tür. »Komm. Wir werden durch den Hinterausgang verschwinden!«
Sie schlichen sich aus dem Haus, und nun sah sie auch die Brandstelle. Der große gelbe Palast des Potus brannte lichterloh; die Flammen schlugen hoch, und Funken stoben. Juna hörte Schreie aus dem Innern des Palasts und sah umherirrende Leute.
Die Straßen waren voller Menschen. Die ausgemergelten und schmutzigen Gestalten waren mit zerrissenen Tierhäuten und Lumpen aus Pflanzenfasern bekleidet und schwärmten nun aus wie hungrige Ratten. Für Juna hatte das kakophonische Stimmengewirr des Mobs nichts Menschliches mehr: Es glich eher dem Krachen eines Donners oder dem Grollen eines Gewitters, das jedweder menschlicher Kontrolle entzogen war. Sie packte die Kinder und versuchte die Angst zu unterdrücken. »Es ist der Hunger«, sagte sie.
»Ja.«
Hungersnot: Das war auch so ein Wort, das Juna hatte lernen müssen. Der größte Teil der Weizenernte der Farmen in der Gegend war durch eine Krankheit vernichtet worden, die niemand kannte und zu heilen vermochte. Wegen der ausgefallenen Ernte war eine Hungersnot ausgebrochen. Der Aufstand hatte sich mit der Ermordung der Tribut-Sammler angebahnt, die das eintreiben wollten, was des Potus war. Und nun war es zum offenen Aufstand gekommen. Junas Leute lebten von vielerlei Wildpflanzen, die, anders als eine monokulturelle Getreidesorte, nicht allesamt vernichtet wurden, wenn eine Seuche ausbrach. Hungersnot: auch eine Kehrseite der neuen Lebensweise.
Die Familie schlich sich gesenkten Hauptes durch enge Gassen zum hinteren Tor.
»Es gibt eine neue Siedlung westlich von hier, an der Küste«, sagte Keram. »Das Ackerland ist gut, und das Meer enthält Nahrung in Hülle und Fülle. Es ist eine Reise von vielen Tagen, aber…«
»Wir werden es schaffen«, sagte sie entschlossen.
Er nickte knapp. »Wir müssen es schaffen.«
Schließlich erreichten sie das offene Tor, wo Muti auf sie wartete. Die drei verschwanden mit den Kindern im Arm in der Nacht.
Auf ihrer Wanderung nach Westen kamen sie überall durch ein Land, das von Bauern und Städtebauern umgewandelt worden war. Selbst das Land, das Juna nach der Flucht aus der Heimat einst mit Cahl durchquert hatte, hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert – so schnell war die Expansion vorangeschritten.
Diese Expansion war dadurch bedingt, dass das Ackerland alsbald knapp wurde. Die Kinder der Bauern wollten jeder ein eigenes Stück Land haben, um es zu bewirtschaften, wie ihre Eltern es getan hatten. Das war aber kein Problem. Das Wissen der Bauern war nämlich nicht auf ein bestimmtes Stück Land beschränkt, wie es bei den Jägern und Sammlern der Fall gewesen war. Sie befleißigten sich vielmehr einer systematischen Denkweise: Sie wussten, wie sie das Land verändern mussten, damit es ihren Bedürfnissen entsprach – und das galt für jedes Land. Sie mussten die jeweils herrschenden Bedingungen nicht als gegeben hinnehmen. Für Bauern war Kolonisierung einfach.
Und so nahm von den ersten primitiven Farmen im Osten Anatoliens die große Expansion ihren Lauf. Es war eine Art Krieg, der gegen Mutter Erde selbst geführt wurde, während sie den Bedürfnissen der zunehmenden Anzahl menschlicher hungriger Mäuler angepasst wurde. Diese Expansion ging mit erstaunlicher Geschwindigkeit vonstatten und sollte bald über das Verbreitungsgebiet des Homo erectus und früherer Arten des Menschen hinausschwappen.
Jedoch griff diese Expansion nicht etwa in ein Vakuum aus, sondern in ein Land, das von den alten Gemeinschaften der Jäger und Sammler besetzt war.
Eine ›friedliche Koexistenz‹ war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es war dies ein Konflikt zwischen zwei diametral entgegen gesetzten Einstellungen gegenüber dem Land. Die Jäger betrachteten das Land als einen Ort, in dem sie verwurzelt waren – wie die Bäume, die dort wuchsen. Für die Bauern hingegen war es eine Ressource, die man besaß, kaufte, verkaufte und in Parzellen unterteilte: Land hatte in erster Linie einen wirtschaftlichen und keinen ideellen Wert. Der Ausgang stand von vornherein fest. Die Jäger und Sammler waren zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen: Zehn mangelernährte, schwächliche Bauern vermochten immer einen gesunden Jäger zu überwältigen.