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Nach drei Tagen erreichten sie eine Elendssiedlung, eine Ansammlung von Hütten und Verschlägen. Juna ließ ebenso angespannt wie gleichgültig den Blick schweifen. »Was wollen wir überhaupt hier? Wir sollten noch ein Stück gehen, ehe es dunkel wird.«

Keram legte ihr beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Ich sagte mir, dass du vielleicht hier vorbeischauen wolltest. Juna, erkennst du diesen Ort denn nicht mehr?«

»Das solltest du aber«, sagte eine seltsam vertraute Frauenstimme.

Juna drehte sich um. Eine Frau humpelte auf sie zu; sie hatte sich ein altes Stück Leder um den Kopf gewickelt. Junas Gedanken überschlugen sich. Die Worte hatten seltsam geklungen – natürlich, weil sie in Junas Muttersprache ertönt waren, einer Sprache, die sie an dem Tag zum letzen Mal gehört hatte, als sie Cahl aus dem Dorf gefolgt war.

Nun erkannte Juna auch das Gesicht der Frau. Es war Sion, ihre ältere Schwester. Eine namenlose Sehnsucht überkam sie. »Ach, Sion…« Sie ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu.

Doch Sion wich zurück. »Nein! Bleib weg.« Sie verzog das Gesicht. »Die Krankheit hat mich nicht umgebracht, wie sie so viele andere umgebracht hat, aber ich trage sie vielleicht noch immer in mir.«

»Sion… Wer…?«

»Wer gestorben ist?« Sion stieß ein bellendes, bitteres Lachen aus. »Du solltest lieber fragen, wer überlebt hat.«

Juna schaute sich um. »Und hier haben wir wirklich einmal gelebt? Es ist nichts mehr so wie früher.«

Sion schnaubte. »Die Männer trinken Bier und Met. Die Frauen arbeiten auf den Farmen von Keer. Niemand geht heute mehr auf die Jagd, Juna. Die Tiere sind vertrieben worden, um Platz für die Felder zu machen. Wir schlagen uns so durch. Manchmal singen wir die alten Lieder für die Farmer. Dafür geben sie uns dann eine Extraration Bier.«

»Wo ist der Schamane?«

»Schamanen sind nicht mehr erlaubt. Der letzte hat sich zu Tode gesoffen, der fette Trottel.« Sie zuckte die Achseln. »Das macht aber keinen Unterschied. Der Schamane könnte uns sowieso nicht mehr helfen. Die Schamanen wissen nämlich nicht, wie die Weizenernte ausfällt, sondern die Farmer und ihre Herren aus der Stadt mit ihren Schnüren und den schmalen Augen, mit denen sie in den Himmel schauen…«

Bei der Krankheit hatte es sich um Masern gehandelt.

Die Menschheit war natürlich auch in der Vergangenheit immer wieder von Krankheiten heimgesucht worden, von denen Lepra, Pocken und Gelbfieber zu den ältesten Seuchen zählten.

Viele Krankheiten wurden durch Bakterien hervorgerufen, die sich im Erdboden oder in Tierpopulationen tummelten – so wurde Gelbfieber beispielsweise von afrikanischen Affen übertragen. Jedoch hatten die Menschen Zeit gehabt – im evolutionären Maßstab –, sich gegen die meisten Krankheiten und Parasiten zu immunisieren.

Die Entstehung der neuen dichten Gemeinschaften hatte aber den Ausbruch neuer Krankheiten – Volkskrankheiten – wie Masern, Röteln, Windpocken und Grippe begünstigt. Im Gegensatz zu den älteren Krankheiten vermochten die für die neuen Seuchen verantwortlichen Mikroben nur im Körper lebendiger Menschen zu überleben. Von solchen Krankheiten wurden die Menschen betroffen, nachdem sie sich zu hinreichend dichten und mobilen Gruppen vereinigt hatten, die eine Ausbreitung überhaupt erst ermöglichten.

Wenn die Mikroben Gruppen infizierten, dann mussten sie aber auch von Gruppen stammen. Und das stimmte auch: Es waren Gruppen von Tieren, die geselligen Herdentiere, in deren unmittelbarer Nähe die Menschen nun lebten – Tiere, in denen die Krankheiten schon lange virulent waren. Tuberkulose, Masern und Windpocken sprangen von Rindern auf Menschen über, Grippe von Schweinen, Malaria von Vögeln. Und mit der Errichtung von Kornspeichern erreichten die Überträger von Krankheiten – Ratten und Mäuse, Flöhe und Wanzen – eine ungeahnte Populationsdichte. Immerhin entwickelten die Überlebenden eine gewisse Widerstandsfähigkeit, obwohl diese Mechanismen unvollkommen waren und Nebenwirkungen hatten. Die Mechanismen der Anpassung arbeiteten im Vergleich zu den rasanten Veränderungen der menschlichen Kultur zu langsam, um diese Mängel zu beseitigen.

Die Jäger und Sammler an den Grenzen der expandierenden Farmen hatten indes gar keine Widerstandskräfte. Nicht nur dass sie das Land an die anstürmenden Ackerbauern verloren, sie verloren auch das Leben.

Dieser Übergang von der alten zur neuen Lebensweise war ein entscheidender Moment in der Menschheitsgeschichte. Es wurde eine kollektive, unbewusste Entscheidung getroffen zwischen der Begrenzung des Bevölkerungswachstums, um sich mit den vorhandenen Ressourcen zu begnügen und dem Versuch einer Erhöhung der Nahrungsproduktion, um eine wachsende Population zu ernähren. Und nachdem diese Entscheidung erst einmal gefallen war, musste die Expansion der Bauern sich zwangsläufig beschleunigen. Deshalb vermochten die Menschen, die an der alten Lebensweise festhielten, nur noch in Nischen zu überleben, in den Wüsten, im Gebirge und im tiefsten Urwald. An Orten, die die Bauern nicht zu kultivieren imstande waren.

Das sollte auch in Afrika geschehen, wo mit Waffen aus Eisen ausgerüstete Bantu-Bauern aus der westlichen Sahara ausschwärmten und Stämme wie die Pygmäen und die Khoisan verdrängten: Vorfahren von Joan Useb, die schließlich den ganzen Weg bis zur afrikanischen Ostküste zurücklegten. Es geschah auch in China, wo Bauern aus dem Norden, durch die offene Geographie Chinas unterstützt, gen Süden zogen und einen Großteil des tropischen Südostasiens neu besiedelten und kultivierten. Dabei trieben sie die alteingesessenen Populationen in sekundären Invasionen vor sich her, die nach Thailand und Burma hinüberschwappten.

Und der weite, von Osten nach Westen sich erstreckende Raum Eurasiens lud auch zur Expansion ein. Bauern rückten mit Leichtigkeit entlang der Breitengrade vor und nahmen Gebiete in Besitz, deren Klima und Tageslänge der alten Heimat glichen und die somit für ihre Getreidesorten und Tiere geeignet waren. Mit den Rindern und Ziegen, den Schweinen und Schafen, dem überaus ergiebigen Weizen und der Gerste sowie der anschwellenden Bevölkerung sollten die Nachfahren der Bauern von Cata Huuk ein mächtiges Reich auf der Grundlage von Weizen und Reis errichten. Die ägyptischen Pyramiden wurden von Arbeitern errichtet, die mit Getreideerzeugnissen ernährt wurden, die ursprünglich aus Südostasien stammten. Die Bauern brachten auch ihre indoeuropäische Sprache mit, die im weiteren Verlauf sich verzweigte, veränderte und ausbreitete und aus der später Latein, Deutsch, Sanskrit, Hindi, Russisch, Walisisch, Englisch, Spanisch, Französisch und Gälisch hervorgingen. Schließlich hatten sie ein breites kreuzförmiges Gebiet kolonisiert, das sich von der Atlantikküste nach Zentralasien und von Skandinavien bis nach Nordafrika erstreckte. Eines Tages sollten sie sogar in Booten aus Holz und Eisen die Meere überqueren.

Auf dieser riesigen Fläche kultivierten Lands erblühten Städte, und Reiche entstanden und verfielen. Und überall, wohin die Bauern kamen, schleppten sie Krankheiten ein wie eine Schaumkrone auf einer Flutwelle aus Sprache, Kultur und Krieg.

»Schwester, komm mit uns«, sagte Juna impulsiv.

Sion warf einen Blick auf Keram und Muti und lachte. »Das wird nicht möglich sein.« Mit einem Ausdruck der Seelenqual schaute sie auf Junas Kinder, die in den Armen von Muti und Keram schliefen. »Auf Wiedersehen«, flüsterte sie dann und eilte zu den Hütten zurück.

Juna wollte ihr auch ein ›Auf Wiedersehen‹ nachrufen. Aber das wären dann die letzten Worte, die ich in meiner Sprache spreche, sagte sie sich. Denn ich werde nie mehr hierher zurückkehren. Nie wieder.

Also wandte sie sich wortlos ab und setzte mit ihren Kindern die Wanderung Richtung Westen fort, zur neuen Stadt an der Küste.