KAPITEL 15
Das licht erlischt
Rom, 482 nach Christus
I
In Rom schien die Sonne, und in der italienischen Luft schienen Menschen, die das mildere Klima Galliens gewohnt waren, förmlich zu ertrinken. Die Stadt war mit intensiven Gerüchen geschwängert – nach Rauch, nach Speisen und vor allem nach Abwässern.
Als Honorius ihn ins Forum führte, versuchte Athalarich sich nicht anmerken zu lassen, wie überwältigt er war.
Der hagere alte, in eine fadenscheinige Toga gehüllte Honorius ging stolpernd weiter. »Ich hätte nicht erwartet, dass die Sonne so stark ist. Das Licht muss meine Vorfahren geformt und mit Kraft erfüllt haben… Oh! Wie ich mich danach gesehnt habe, diesen Ort zu sehen. Wir sind hier auf der Via Sacra, dem Heiligen Weg. Da ist der Tempel von Castor und Pollux, und dort der Tempel des Göttlichen Cäsar mit dem Augustusbogen daneben…« Er trat in den Schatten einer Statue, eines Reiterstandbilds aus Bronze, dessen Sockel Athalarich allein schon um das Dutzendfache überragte. Er lehnte sich gegen den Marmor. »Augustus sagte, er hätte Rom als eine Stadt aus Ziegelsteinen vorgefunden und als eine Stadt aus Marmor hinterlassen. Der weiße Marmor kommt aus Luna im Norden, und der bunte Marmor aus Nordafrika, Griechenland und Kleinasien – früher waren das nicht so exotische Orte wie heute…«
Athalarich lauschte mit ausdruckslosem Gesicht seinem Mentor.
Hier schlug das Herz Roms. Hier waren schon in der römischen Republik die Geschicke der Stadt gelenkt worden. Seitdem hatten Konsuln und Imperatoren wie Julius Cäsar und Pompeius diese alte Stätte zu ihrem Ruhm verschönert, und der Bereich hatte sich in ein Gewirr aus Tempeln, Prozessionswegen, Triumphbögen, Basilikas, Ratshallen, Rostra und Freiflächen verwandelt. Die kaiserlichen Residenzen auf dem Palatin thronten noch immer über der Stadt als Symbol unumschränkter Macht.
Doch nun waren Kaiser und Republikaner gleichermaßen von der Bühne abgetreten.
Athalarich hatte für diesen Tag seine beste Rüstung angelegt, die Gürtelschnalle aus gravierter Bronze mit feinen Punzierungen aus Silber und Gold und der goldenen Fibel mit Silberfiligran, die den Umhang geschlossen hielt. Sein Barbaren-Schmuck, über den die Römer sich lustig zu machen pflegten, glänzte selbst hier, im antiken Herzen ihrer Hauptstadt, im grellen Licht der italienischen Sonne. Und damit er nicht vergaß, woher er kam, trug Athalarich die Marke aus gehämmertem Zinn um den Hals, die seinen Vater einst als Sklaven ausgewiesen hatte.
Er war stolz auf sich und auf den, der er vielleicht werden würde. Und doch…
Und doch war die schiere Größe der Stadt für jemanden, der bisher nur die Dörfer Galliens kannte, erstaunlich.
Rom war vorwiegend eine Stadt aus Lehmziegeln, Holz und Bruchsteinen; die vorherrschende Farbe war das kräftige Rot der Dachziegel, mit denen die Mietskasernen gedeckt waren. Die Bevölkerung war schon vor langer Zeit über die Befestigungen der Altstadt hinausgeschwappt und sogar über die weit gezogenen Mauern, die vor zwei Jahrhunderten zum Schutz vor der drohenden Barbaren-Invasion errichtet worden waren. Es hieß, dass bis zu einer Million Menschen in dieser Stadt gelebt hätten, die über ein Imperium von hundert Millionen geherrscht hatte. Diese Zeiten waren vergangen – die niedergebrannten und verlassenen Vorstädte kündeten davon –, doch selbst in dieser Phase des Verfalls war die Stadt noch immer ein Ausbund an Gigantomanie. Es gab zwei Zirkusse, zwei Amphitheater, elf Badehäuser, sechsunddreißig Triumphbögen, fast zweitausend Paläste und tausend Brunnen und Springbrunnen, die über nicht weniger als neunzehn Aquädukte mit Tiber-Wasser gespeist wurden.
Und im Herzen dieses Meers aus roten Ziegeln und schwärmender Menschen befand sich eine große Insel aus Marmor: Marmor, der nicht nur für Säulen und Statuen verwendet wurde, sondern auch für Wandverkleidungen und sogar als Straßenpflaster.
Obwohl die weite Fläche des Forums mit Marktständen übersät war, glaubte Athalarich eine große Traurigkeit zu spüren. Heute befand die Stadt sich nicht einmal mehr unter römischer Herrschaft. Italien wurde nun von einem Skiren namens Odoaker regiert, der von aufständischen germanischen Söldnern eingesetzt worden war – und Odoaker hatte Ravenna, eine Stadt im nördlichen Marschland, als Residenz auserkoren. Rom selbst war bereits zweimal eingenommen worden.
Motiviert durch einen sublimen Sadismus, der ihn selbst verwunderte, nahm Athalarich eine Bestandsaufnahme der Schäden vor. »Schau die leeren Sockel. Die Statuen sind gestohlen worden. Die Säulen sind umgestürzt und werden auch nicht mehr aufgerichtet werden. Nun wird sogar schon der Marmor von den Tempelwänden gerissen! Rom verfällt, Honorius.«
»Natürlich verfällt Rom«, sagte Honorius schroff und trat in den Schatten des Sockels. »Natürlich verfällt die Stadt. Ich selbst verfalle auch.« Er hob die leberfleckige Hand. »Und du auch, junger Athalarich, trotz deiner Überheblichkeit. Und doch bin ich noch stark. Es gibt mich noch, nicht wahr?«
»Ja, es gibt dich noch«, sagte Athalarich gemäßigter. »Und Rom gibt es auch noch.«
»Glaubst du, dass die Natur vergeht, Athalarich? Dass alle Lebensformen mit jeder Generation schwächer werden?« Honorius schüttelte den Kopf. »Gewiss waren nur Männer mit Kühnheit und Wagemut imstande, diese mächtige Stadt zu errichten, Männer, die man in der zerstrittenen und zerrissenen Welt von heute nicht mehr findet – Männer, die offensichtlich und tragischerweise ausgestorben sind. Und deshalb steht es uns wohl an, uns so zu verhalten wie jene, die vor uns da waren und diesen Ort erbaut haben – und nicht wie jene, die sich anschicken, ihn zu zerstören.«
Athalarich war von diesen Worten bewegt, obwohl sie ihn subtil ausschlossen. Athalarich wusste, dass er ein guter Schüler war und dass Honorius ihn wegen seines Verstands respektierte. Athalarich hatte allen Grund, sich als Beschützer und sogar als Freund des alten Mannes zu fühlen – natürlich, denn sonst hätte er ihn nicht bei der Suche nach uralten Knochen auf seiner gefahrvollen Reise durch Europa begleitet. Zugleich war Athalarich sich aber auch bewusst, dass es Mauern in Honorius’ Herz gab, die genauso massiv und unverrückbar waren wie diese mächtigen Wände aus weißem Marmor um ihn herum.
Es waren Honorius’ Vorfahren gewesen, die diese Stadt gebaut hatten, nicht Athalarichs. Athalarich konnte sich noch so sehr anstrengen, für Honorius würde er immer der Sohn eines Sklaven – und damit ein Barbar – bleiben.
Ein Mann näherte sich ihnen. Er war in eine Toga gehüllt, die genauso gediegen war, wie Honorius’ Gewand verschlissen, doch er hatte eine dunkle, olivfarbene Haut.
Honorius stieß sich vom Sockel ab und straffte sich. Athalarich verschob den Umhang, sodass das Schwert an der Hüfte zum Vorschein kam.
Der Mann taxierte sie kühl, wobei er die Hände in einer Falte der Toga verborgen hatte. »Ich habe schon auf Euch gewartet«, sagte er in einem stark akzentuierten, aber einwandfreien Latein.
»Aber Ihr kennt uns nicht«, sagte Honorius.
Der Fremde hob die Augenbrauen und warf einen Blick auf Honorius’ staubige Toga und Athalarichs üppigen Schmuck. »Dies ist noch immer Rom, mein Herr. Reisende aus den Provinzen sind gewöhnlich leicht zu erkennen. Honorius, ich bin derjenige, den Ihr sucht. Ihr könnt mich Papak nennen.«
»Ein Sassaniden-Name. Ein berühmter Name.«
Papak lächelte. »Ihr seid gebildet.«
Athalarich musterte Papak, während dieser Honorius über die Widrigkeiten ihrer Reise befragte. Der Name an sich sagte ihm schon vieclass="underline" Papak war offensichtlich ein Perser aus dem großen und mächtigen Land jenseits der Ostgrenzen des schon geschrumpften Römischen Reiches. Dennoch kleidete er sich wie ein Römer, sodass nichts auf seine Herkunft schließen ließ außer seiner Hautfarbe und dem Namen, den er trug.