Und es hatte auch einen Namen. Die annähernde Übersetzung hätte ›Lauscher‹ gelautet, denn trotz seiner Jugend hatte es bereits bewiesen, dass es über ein außergewöhnliches Gehör verfügte.
Lauscher war ein Dinosaurier: ein Dinosaurier mit einem großen Gehirn und einem Namen.
Trotz der zerstörerischen Kraft waren die Herden der Entenschnäbel und gepanzerten Dinosaurier aus Purgas Tagen nur ein schwacher Abklatsch der Vergangenheit. Im Zeitalter des Jura hatten die größten Landtiere die Welt durchstreift, die jemals gelebt hatten. Und ihnen hatten Jäger mit Speeren nachgestellt, deren Spitzen vergiftet waren.
Lauscher und ihr Gefährte huschten lautlos durch die grünen Schatten des Waldes. Die Bewegungen koordinierten sie in stummer Zwiesprache, sodass sie wie zwei Hälften ein- und desselben Wesens wirkten. Denn seit Generationen, die bis in den Dämmerzustand der Verstandeslosigkeit ihrer Vorfahren zurückreichten, hatte diese Fleischfresser-Spezies in Paaren gejagt, und genauso hielten sie es auch jetzt.
Der Wald dieses Erdzeitalters wurde von Araukarien und Ginkgos dominiert. Im offenen Gelände wuchsen Farne, Schösslinge und wie Ananasbäume aussehende zikadenartige Bäume. Aber es gab keine blühenden Pflanzen. Dies war eine ziemlich triste, unfertig anmutende Welt, eine Welt in Grau-Grün und Braun, eine Welt ohne Farben, durch die die Jäger streiften.
Lauscher hörte die heranziehend Diplo-Herde zuerst. Sie spürte es als leichtes Vibrieren in den Knochen. Sie warf sich auf den Boden, schob Farne und Koniferennadeln beiseite und legte den Kopf auf den festen Boden.
Das Geräusch war ein tiefes Grollen wie von einem weit entfernten Erdbeben. Das waren die tiefsten Stimmlagen der Diplos, die Lauscher als Bauch-Stimmen bezeichnete: ein Grummeln im Infraschallbereich, das der Verständigung diente und kilometerweit trug. Die Diplo-Herde musste das Wäldchen verlassen haben, in dem es die kühle Nacht verbracht hatte: die langen Stunden des Waffenstillstands, wo Jäger und Gejagte gleichermaßen in traumloser Starre verharrten. Nur wenn die Diplos auf Wanderung waren, hatte man eine Chance, die Herde zu attackieren und vielleicht ein wehrloses Junges oder ein krankes Tier zu isolieren.
Lauschers Gefährte wurde Stego genannt, weil er genauso stur und schwer vom einmal eingeschlagenen Weg abzubringen war wie der mächtige, aber dumme Stegosaurus. Sie bewegen sich?, fragte er.
Ja, erwiderte sie. Sie bewegen sich.
Wenn Fleischfresser jagten, verhielten sie sich still. Deshalb benutzten sie eine Sprache aus Schnalzlauten, Handzeichen und einer geduckten Körperhaltung – aber keine Mimik, denn die Gesichter dieser Ornithen waren genauso starr wie die der Dinosaurier.
Je näher sie der Herde kamen, desto lauter wurden die Bauch-Stimmen der großen Tiere. Der Boden erbebte, die Farnblätter schüttelten sich und Staub wurde aufgewirbelt, als ob der Vorbeimarsch der Herde schon vorweggenommen würde. Und bald hörten die Ornithen auch die Schritte der mächtigen Tiere. Es war ein gewaltiges Stampfen, das sich anhörte, als ob Felsbrocken einen Abhang hinunterrollten.
Die Ornithen erreichten den Waldrand. Und sahen vor sich die Herde.
Wenn Diplodocus marschierte, war es, als ob die Landschaft sich verschöbe, als ob die Hügel ein Eigenleben entwickelt hätten und übers Land glitten. Ein menschlicher Beobachter hätte vielleicht Schwierigkeiten gehabt, zu begreifen, was er sah. Der Maßstab stimmte nicht: Sicher handelte es sich bei diesen großen gleitenden Massen um geologische Phänomene und nicht etwa um Tiere.
Das größte Exemplar dieser vierzigköpfigen Herde war eine riesige Kuh, eine Diplo-Matriarchin, die seit über hundert Jahren im Mittelpunkt dieser Herde stand. Sie war volle dreißig Meter lang, hatte eine Widerristhöhe von fünf Metern und wog zwanzig Tonnen. Selbst die Jungtiere der Herde waren mit zehn Jahren schon größer als ein Elefant. Auf dem Marsch hielt die Matriarchin den mächtigen Hals und Schwanz fast horizontal, sodass sie auf einer Länge von ein paar Dutzend Metern eine Parallele zum Erdboden bildete. Das Gewicht des schweren Bauchs wurde durch die breiten Hüften und elefantenartigen Säulenbeine gestützt. Faserstränge dick wie Schiffstaue zogen sich vom Hals den Rücken entlang bis zum Schwanz. Sie wurden in Kanälen geführt, die neben dem Rückgrat verliefen. Hals und Schwanz spannten durch ihr Gewicht die Fasern im Nacken, die wiederum das Gewicht des Rumpfs ausglichen. Sie war wie eine biologische Hängebrücke konstruiert.
Die Matriarchin hatte einen absurd kleinen Kopf, als ob er zu einem anderen Tier gehörte. Trotzdem war das der Stutzen, mit dem sie die Nahrung einnahm. Sie war ständig am Fressen. Mit den mächtigen Kiefern vermochte sie große Stücke aus Baumstämmen herauszureißen, und ein robuster Verdauungstrakt besorgte die Verarbeitung des qualitativ minderwertigen Futters. Sie weidete sogar im Schlaf. In einer Welt mit einer so üppigen Vegetation wie im späten Jura gab es Nahrung im Überfluss.
Ein so großes Tier vermochte sich nur mit chtonischer Langsamkeit zu bewegen. Aber die Matriarchin hatte ohnehin nichts zu befürchten. Sie wurde durch ihre enorme Größe geschützt, durch ein Verhau aus Knochenstacheln auf dem Rücken und massive Panzerplatten unter der Haut. Sie musste auch nicht intelligent, flink und reaktionsschnell sein; das Gehirn diente vor allem als Steuergerät für die Biomechanik des gewaltigen Leibs und regelte Koordination und Motorik. Trotz der Masse mutete die Matriarchin irgendwie elegant an. Sie war eine zwanzig Tonnen schwere Ballerina.
Die Herde bewegte sich schnaubend und kollernd fort. Die Pflanzenfresser trompeteten gereizt, wenn die mächtigen Körper sich gelegentlich berührten. Unterlegt wurden diese Laute von den mechanischen Mahlgeräuschen der Diplo-Mägen. Ein Mahlwerk aus Steinen rumorte in den mächtigen Verdauungs-Apparaten und unterstützte das Zerkleinern der Nahrung. Auf diese Art und Weise vermochte der Diplo-Magen verschiedene minderwertige Futtersorten effizient zu verwerten, die von dem kleinen Gebiss kaum gekaut wurden. Es hörte sich so an, als ob schwere Maschinen am Werk seien.
Eskortiert wurde diese Parade von den ›Roadies‹ der großen Pflanzenfresser. Insekten umschwirrten die Diplos und ihre riesigen Kothaufen. Durch die Schwärme stieß eine Vielfalt kleiner, Insekten fressender Pterosaurier. Ein paar Pterosaurier ritten sogar auf den breiten Rücken der Diplos. Die störte das aber nicht. Es gab sogar ein Paar plumper, flügelschlagender Protovögel, die den Diplos zwischen den Füßen herumliefen und gierig nach Larven, Fliegen und Käfern schnappten. Und dann waren da noch die Fleisch fressenden Dinosaurier, die ihrerseits die Jäger jagten. Lauscher erkannte eine Schar junger Coelusaurier, die zwischen den säulenartigen Beinen der Pflanzenfresser ihrer Beute nachstellten und in jedem Moment den Tod durch einen achtlos gesetzten Fuß oder den Peitschenhieb eines Schwanzes riskierten.
Es war eine riesige mobile Gemeinschaft, eine ganze Stadt, die endlos durch den Weltenwald wanderte. Und es war eine Gemeinschaft, von der Lauscher ein Teil war – in der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte und der sie bis zu ihrem Tod folgen würde.
Die Diplo-Matriarchin gelangte zu einem Ginkgo-Hain. Die Bäume waren ziemlich hoch und trugen sattes grünes Laub. Sie reckte den sehnigen Hals und nahm das Grünzeug in Augenschein. Dann tauchte sie den Kopf ins Blattwerk und tat sich daran gütlich, wobei sie die Blätter mit den stumpfen Zähnen abriss. Die anderen Erwachsenen schlossen sich ihr an. Die Tiere knickten die Bäume einfach ab, bissen in die Stämme und rissen sogar die Wurzeln aus der Erde. Bald war das Wäldchen gerodet; der Ginkgo würde Jahrzehnte brauchen, um sich von diesem Besuch zu erholen. Solcherart prägten die Diplos die Landschaft. Sie hinterließen einen Pfad der Verwüstung und schlugen Schneisen aus grüner Savanne in eine von Wald dominierte Welt. Weil die Herde die Vegetation restlos zerstörte, musste sie immer weiter ziehen wie ein marodierendes Heer.