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Honorius’ Geschichte war aber nur eine von unzähligen ähnlichen Tragödien, die von den unerbittlich waltenden geschichtlichen Kräften verursacht wurden, die Europa umformten. Die von den Römern geschaffenen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Strukturen waren schon tausend Jahre alt. Einst hatte das römische Reich sich über Europa, Nordafrika und Asien erstreckt: Römische Soldaten hatten sich Scharmützel mit den Bewohnern Schottlands im Westen ebenso geliefert wie mit Chinesen im Osten. Das Imperium war auf Expansion angelegt, die ehrgeizigen Heerführern Triumphe und Händlern Profite beschert und als schier unerschöpfliche Quelle für Sklaven gedient hatte.

Als die Expansion jedoch an ihre Grenzen gestoßen war, vermochte man das System nicht länger aufrechtzuerhalten.

Und dann kam der Punkt des abnehmenden Grenzertrags, wo jeder denarius, der an Steuern eingenommen wurde, in die Verwaltung und das Militär gesteckt werden musste. Das Imperium wurde immer komplexer und bürokratischer – und damit immer teurer zu unterhalten –, und die Ungleichverteilung des Volksvermögens steigerte sich ins Groteske. Zur Zeit Neros im ersten Jahrhundert befand das ganze Land vom Rhein bis zum Euphrat sich im Besitz von gerade einmal zweitausend obszön reichen Einzelpersonen. Steuervermeidung wurde zum beliebten Sport der Reichen, und die steigenden Kosten für die Stützung des Imperiums wurden zunehmend den Armen aufgebürdet. Die alte Mittelklasse, einst das Rückgrat des römischen Reiches, zerbrach, ausgeblutet durch Steuern und von oben und unten ausgepresst. Das Imperium hatte sich von innen aufgezehrt.

Es war aber nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Die große indoeuropäische Expansion hatte schon viele Zivilisationen hervorgebracht, große und kleine. Große Städte waren bereits im Staub der Geschichte begraben und längst vergessen.

Obwohl der Ursprung des expandierenden Imperiums im Westen gelegen hatte, war der Osten schließlich zu seinem Mittelpunkt geworden. Ägypten erzeugte inzwischen dreimal so viel Getreide wie die reichste westliche Provinz in Afrika, und während die westlichen Grenzen landhungrigen Germanen, Hunnen und anderen eine offene Flanke boten, glich der Osten einer riesigen Festung. Der ständige Fluss von Ressourcen von Ost nach West hatte zu einer wachsenden politischen und wirtschaftlichen Spannung geführt. Schließlich – achtzig Jahre vor Honorius’ Besuch in Rom – war die Trennung zwischen den beiden Hälften des alten Imperiums endgültig vollzogen worden. Danach hatte der Niedergang des Westens sich beschleunigt.

In Konstantinopel galt weiterhin das römische Recht, und Latein blieb die Amtssprache. Wie Athalarich jedoch feststellte, war die Bürokratie kompliziert und verwirrend – insgesamt orientalischer. Offensichtlich wurde Konstantinopel durch die Beziehungen, die es mit den geheimnisvollen Ländern hinter Persien im unbekannten Teil Asiens pflegte, beeinflusst. Sie schlossen sich einer Bootsladung Pilger, hauptsächlich römischer Landadel aus dem Westen, an, die zum Heiligen Land unterwegs war. Endlich war der ganze Papierkram erledigt; allerdings war Honorius’ ohnehin schon geschrumpfter Goldvorrat dadurch noch mehr verringert worden. Anschließend reisten sie zu Pferd und auf Kamelen ins Landesinnere.

Auf der langen Reise verfiel Honorius jedoch sichtlich, und Athalarich bereute es immer mehr, dass er nicht einmal versucht hatte, seinen Mentor zur Rückkehr nach Rom zu bewegen.

Petra war eine Felsenstadt.

»Das ist außergewöhnlich«, sagte Honorius. Er stieg hastig vom Reittier und ging auf die riesigen Bauwerke zu. »Wirklich außergewöhnlich.«

Athalarich stieg auch vom Pferd. Er warf einen Blick auf Papak und seine Träger, wie sie die Pferde zum Wasser führten und folgte dann seinem Mentor. Es war sehr heiß, und in dieser trockenen, staubigen Luft fühlte Athalarich sich auch nicht durch das lockere, blütenweiße Gewand geschützt, das Papak ihm gegeben hatte.

Mächtige Grabmale und Tempel wuchsen aus einer Steppe, die jedoch so öde war, dass es sich eher um eine Wüste handelte. Aber es war immer noch eine quirlige Stadt, wie Athalarich sah. Ein komplexes System aus Kanälen, Röhren und Zisternen kanalisierte und speicherte Wasser für Blumenbeete, Felder und die Stadt selbst. Und doch muteten die Menschen irgendwie wie Zwerge an vor dem Hintergrund der großen Monumente, als ob sie von der Zeit geschrumpft worden wären.

»Einst war dieser Ort der Mittelpunkt der Welt, weißt du«, sinnierte Honorius. »Zwischen Assyrien, Babylon, Persien und Ägypten fand ein Kampf um die Vorherrschaft statt – und zwar hier in diesem Gebiet, denn unter den Nabatäern kontrollierte Petra den Handel zwischen Europa, Afrika und dem Osten. Es war eine außerordentliche Machtposition. Und unter römischer Herrschaft wurde Petra noch reicher.«

Athalarich nickte. »Und wieso hat Rom dann die Welt beherrscht. Und nicht Petra?«

»Ich glaube, die Antwort liegt genau vor dir«, sagte Honorius. »Schau.«

Athalarich sah aber nichts außer ein paar Bäumen, die inmitten der Sträucher, Kräuter und Gräser ums Überleben kämpften. Ziegen, die von einem zerlumpten Jungen mit großen Augen gehütet wurden, knabberten an tief hängenden Ästen.

»Einst war dies Waldland«, sagte Honorius, »geprägt von Eichen und Pistazienbäumen. So sagen die Historiker. Aber die Bäume wurden für den Bau von Häusern und die Täfelung von Wänden gefällt. Nun fressen die Ziegen die Reste des Pflanzenwuchses, und der ausgelaugte Boden trocknet aus und wird vom Wind verweht. Als das Land nichts mehr hergab und die Brunnen versiegten, floh die Bevölkerung oder verhungerte. Wenn Petra nicht schon hier existiert hätte, wäre es unmöglich gewesen, sie aus einem so armen Hinterland zu versorgen. In ein paar Jahrhunderten wird die Stadt ganz verlassen sein.«

Athalarich verspürte ein bedrückendes Gefühl der Verschwendung. »Welchen Sinn haben diese prachtvollen Aufhäufungen von Stein und die vielen Toten, die der Preis für ihre Errichtung gewesen sein müssen, wenn die Menschen ihre eigenen Lebensgrundlagen verfressen und alles zu Schutt zerfällt?«

»Es ist gut möglich«, sagte Honorius düster, »dass Rom eines Tages auch eine Ruinenstätte mit umgestürzten Monumenten ist und von armseligen Leuten bewohnt wird, die ihre Ziegen über die Via Sacra treiben, ohne die Bedeutung der mächtigen Ruinen zu kennen, die sie überall sehen.«

»Auch wenn Städte erblühen und verfallen, vermag ein Mensch doch Herr seines Schicksals zu sein«, murmelte Papak. Er hatte sich zu ihnen gesellt und lauschte aufmerksam. »Und hier kommt ein solcher, glaube ich.«

Ein Mann kam aus der Stadt auf sie zu. Er war sehr groß und trug eine Kleidung aus schwarzem Stoff, der sich um den Oberkörper und die Beine schmiegte. Ein rotes Tuch bedeckte seinen Kopf und verhüllte fast das ganze Gesicht. Der Staub schien um seine Füße zu tanzen. Athalarich mutete er wie eine mythische Gestalt aus einer anderen Zeit an.

»Euer Skythe, vermute ich«, murmelte Honorius.

»Fürwahr«, sagte Papak.

Honorius straffte sich und strich die Toga glatt. Athalarich verspürte einen Anflug von Stolz, der jedoch durch einen Hauch Neid oder vielleicht auch Minderwertigkeitsgefühl getrübt wurde. So imposant dieser Fremde auch war, Honorius war ein Bürger Roms und musste sich vor keinem Menschen der Welt fürchten.

Der Skythe wickelte das Tuch vom Kopf ab und wirbelte noch mehr Staub auf. Er hatte ein verwittertes Gesicht mit einer Hakennase. Athalarich stellte konsterniert fest, dass er blondes Haar hatte, flachsblond wie das eines Sachsen.

Honorius wandte sich an Papak und murmelte: »Entbietet ihm Euren Gruß und versichert ihn unsrer besten Absichten…«

»Diese Wüstenfüchse haben wenig Zeit für Nettigkeiten, mein Herr«, fiel Papak ihm ins Wort. »Er will Euer Gold sehen.«