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Die Menschen sprachen noch immer über die verheerende Seuche des Antoninus vor dreihundert Jahren. In den Jahrtausenden seit dem Tod von Juna hatte der medizinische Fortschritt die großen Seuchen kaum einzudämmen vermocht. Die großen Handelsrouten hatten die Bewohner Europas, Nordafrikas und Asiens zu einem einzigen riesigen Nährboden für Mikroben vereinigt, und dass die Menschen sich zunehmend in Städten mit unzulänglicher oder gar keiner Kanalisation drängten, hatte die Probleme noch verschärft. In Roms Kaiserzeit war es erforderlich gewesen, einen stetigen Zustrom gesunder Bauern in die Städte zu gewährleisten, um die Sterbefälle auszugleichen – und wirklich gelang es Stadtbevölkerungen erst im zwanzigsten Jahrhundert, ihre Anzahl aus eigener Kraft konstant zu halten.

Diese schier aus allen Nähten platzende Stadt war eine Verirrung der landwirtschaftlichen Revolution, ein Ort, an dem die Menschen wie Ameisen zusammenlebten und nicht etwa wie Primaten.

Es war fast eine Erleichterung, als sie zu einer Stelle kamen, die bei einer der Eroberungen durch die Barbaren niedergebrannt worden war. Obwohl die Zerstörung schon vor Jahrzehnten stattgefunden hatte, war dieser versengte und verwüstete Bereich nie mehr wiederaufgebaut worden. Doch wenigstens wurde Athalarich der Blick in den Himmel hier nicht durch schmutzige Fassaden verstellt.

»Fragt ihn, woran er gerade denkt«, sagte Honorius zum Perser.

Der Skythe drehte sich um und ließ den Blick über die wuchtigen Mietskasernen streifen. Er murmelte etwas, und Papak dolmetschte: »Seltsam, dass ihr Leute es vorzieht, wie Möwen in Klippen zu leben.« Athalarich hatte die Verachtung in der Stimme des Skythen gehört.

Als sie zur Villa zurückkehrten, stellte Athalarich fest, dass die Börse, die er am Körper trug, säuberlich aufgeschlitzt und geleert worden war. Er ärgerte sich, über sich selbst wie über den Dieb – wie sollte er auf Honorius aufpassen, wenn er nicht einmal auf seine eigene Börse zu achten vermochte –, aber er wusste auch, dass er dankbar sein sollte, dass der unsichtbare Räuber ihm nicht auch gleich den Bauch aufgeschlitzt hatte.

Am nächsten Tag kündigte Honorius an, mit seinen Gästen eine Landpartie zu einem Ort zu machen, den er das Museum des Augustus nannte. Also stiegen sie in Wagen und rumpelten über gepflasterte, aber überwucherte Straßen an den Bauernhöfen vorbei, die sich um die Stadt zogen.

Sie erreichten etwas, das einmal eine exklusive, teure Kleinstadt gewesen sein musste. Eine Lehmziegelmauer umschloss ein paar Villen und eine Ansammlung bescheidener Gebäude, die Sklaven beherbergt hatten. Der Ort war offensichtlich verlassen. Die Mauer war niedergerissen und die Gebäude geplündert worden und ausgebrannt.

Honorius führte sie mit einer krakeligen Landkarte in der Hand in den Gebäudekomplex, wobei er etwas vor sich hinmurmelte und die Karte in diese und jene Richtung drehte.

Eine dicke Pflanzenschicht war durch die Mosaiken und Fliesen gebrochen, und Efeu klammerte sich an vom Feuer gesprungene Mauern. Hier musste ein richtiger Todeskampf stattgefunden haben, sagte Athalarich sich, als das tausendjährige Imperium schließlich die Kraft verließ und sein Schutz verloren war. Aber die Anwesenheit der neuen Vegetation inmitten des Verfalls hatte irgendwie etwas Beruhigendes. Es war sogar eine tröstliche Vorstellung, dass in ein paar Jahrhunderten dieser Ort von der Natur zurückerobert sein würde und nichts mehr vom ihm übrig außer ein paar Erhebungen in der Landschaft und seltsam geformte Steine, an denen ein unvorsichtiger Bauer sich den Pflug beschädigen konnte.

Honorius brachte sie zu einem kleinen Gebäude in der Mitte des Komplexes. Es hatte sich vielleicht einst um einen Tempel gehandelt, war aber auch ausgebrannt und zerstört wie der Rest. Die Träger mussten erst einmal ein Gewirr aus Ranken und Efeu wegreißen. Honorius suchte den Boden ab. Schließlich hob er mit einem triumphierenden Ruf einen Knochen auf, eine Capula von der Größe eines Esstellers. »Wusste ich es doch! Die Barbaren haben das eitle Gold und das glänzende Silber mitgenommen, aber von den wahren Schätzen hier wussten sie nichts…«

Beim Anblick von Honorius’ spektakulärem Fund wühlten auch die anderen mit der Begeisterung von Goldsuchern im Erdboden und in der Vegetation. Selbst die tölpelhaften Träger schienen von intellektueller Neugierde ergriffen, vielleicht zum ersten Mal im Leben. Bald förderten sie alle große Knochen, Stoßzähne und sogar missgestaltete Schädel zutage. Es war ein höchst aufregender Moment.

»Dies war einmal ein Knochen-Museum, das von Kaiser Augustus daselbst errichtet wurde!«, sagte Honorius. »Der Biograph Sueton sagt uns, dass es ursprünglich auf der Insel Capri eingerichtet wurde. In späteren Zeiten überführten Augustus’ Nachfolger die besten Stücke hierher. Ein paar Knochen sind schon zersplittert – wie dieser hier –, denn sie sind offenbar schon sehr alt, und es wurde Schindluder mit ihnen getrieben…«

Nun fand Honorius einen schweren Brocken aus rotem Sandstein, in den seltsame weiße Gegenstände eingebettet waren. Er hatte die Größe eines Sargdeckels und war viel zu schwer für ihn, sodass die Träger ihm helfen mussten, ihn anzuheben. »Nun, mein Herr Skythe. Zweifellos werdet Ihr diesen stattlichen Burschen erkennen.«

Der Skythe lächelte. Athalarich und die anderen kamen herbei, um einen Blick darauf zu werfen.

Die in den roten Stein eingebetteten weißen Gegenstände waren Knochen: das Skelett einer im Stein eingeschlossenen Kreatur. Die Kreatur musste so lang gewesen sein wie Athalarich hoch. Sie hatte kräftige Hinterbeine, deutlich sichtbare, mit dem Rückgrat verbundene Rippen und kurze, vor der Brust verschränkte Vorderarme. Und sie hatte einen langen Schwanz wie ein Krokodil, sagte Athalarich sich. Das erstaunlichste Merkmal war aber der Kopf. Der massive Schädel hatte einen großen hohlen Knochengrat und einen kräftigen Kiefer, der unter etwas aufgehängt war, das wie ein Vogelschnabel anmutete. Zwei Augenhöhlen starrten sie aus der Zeit an.

Honorius beobachtete ihn mit rheumatisch wässrigen Augen. »Na, Athalarich?«

»Ich habe so ein Ding nie zuvor gesehen«, stieß dieser hervor. »Aber…«

»Aber du weißt, was das ist.«

Es musste ein Greif gewesen sein: die sagenhaften Ungeheuer der östlichen Wüsten mit vier Füßen und einem großen Vogelkopf. Die Motive der Greife hatten Malerei und Bildhauerei seit tausend Jahren durchdrungen.

Nun setzte der Skythe zu einem so schnellen Redefluss an, dass Papak kaum noch mit dem Dolmetschen nachkam. »Er sagt, dass sein Vater, und sein Vater vor ihm, in den Wüsten des Ostens nach dem Gold gesucht hätten, das von den Bergen hinuntergespült wird. Und die Greife bewachen das Gold. Er hat ihre Knochen überall gesehen; sie lugen aus dem Gestein wie hier…«

»Genauso, wie Herodot es beschrieben hat«, sagte Honorius.

»Frag ihn, ob er auch einen lebend gesehen hat«, sagte Athalarich.

»Nein«, sagte der Skythe durch Papak, »aber er hat ihre Eier in großer Zahl gesehen. Wie Vögel legten sie ihre Eier in Nestern ab, allerdings auf dem Erdboden.«

»Wie ist die Bestie überhaupt in den Stein gelangt?«, murmelte Athalarich.

»Erinnere dich an Prometheus«, sagte Honorius lächelnd.

»Prometheus?«

»Um ihn dafür zu bestrafen, weil er den Menschen das Feuer gebracht hatte, ketteten die alten Götter Prometheus an einen Berg in der östlichen Wüste an, der von Greifen bewacht wurde. Aischylos erzählt uns, wie sein Leib von Erdrutschen und Regenfällen begraben wurde und dass er für eine lange Zeit im Gestein eingeschlossen war, ehe er durch die Verwitterung des Felsens wieder ans Licht kam… Dies hier ist auch so eine prometheische Bestie, Athalarich!«