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Sie setzten die Unterhaltung fort, während sie in den Knochen wühlten. Sie waren allesamt fremdartig, riesig, verkrümmt und unidentifizierbar. Die meisten dieser Überreste stammten von Rhinozerossen, Giraffen, Elefanten, Löwen und Chalicotheria, den mächtigen Säugetieren des Pleistozän. Sie waren durch die tektonischen Umwälzungen ans Tageslicht gelangt worden, als Afrika sich langsam nach Eurasien hineinschob. Wie in Australien und wie auf der ganzen Welt, so war es auch hier: Die Menschen hatten vergessen, was sie verloren hatten, und es blieben ihnen nur noch verzerrte, streiflichtartige Erinnerungen an diese Riesen.

Und während die Männer diskutierten und sich am Fossil zu schaffen machten, schaute der Schädel des Protoceratops – ein Dinosaurier, der nur ein paar Jahrhunderte vor Purgas Geburt in einem Sandsturm umgekommen war – sie mit der blicklosen Ruhe der Ewigkeit an.

»Dies sind Berichte, die von Hesiod, Homer und vielen anderen niedergeschrieben wurden, aber von Generationen von Geschichtenerzählern vor ihnen überliefert wurden.

Die längste Zeit vor dem Erscheinen moderner Menschen war die Erde leer. Doch der urzeitliche Grund gebar eine Anzahl von Titanen. Die Titanen waren wie Menschen, nur viel größer. Prometheus war einer von ihnen. Kronos führte seine Titanen-Geschwister an, um ihren Vater zu meucheln. Doch aus seinem Blut ging die nächste Generation hervor, die Riesen. In jenen Tagen, nicht lang nach dem Ursprung des Lebens selbst, tobte ein verwandtschaftliches Chaos, und Generationen von Riesen und Ungeheuern breiteten sich aus…«

Sie saßen im verwüsteten Atrium der gemieteten Villa. Es war noch immer warm und schwül, obwohl es schon Abend war, doch die Weinranken, das Summen der Insekten und das üppig wuchernde Grün ums Atrium verliehen dem Ort ein fast lauschiges Ambiente.

Und an diesem Ort des Verfalls versuchte Honorius über vielen Gläsern Wein den Mann aus der Wüste zu überzeugen, dass er noch viel weiter mit ihm reisen müsse: durch die Trümmer des Imperiums gen Westen bis zu den Gestaden des Weltenmeeres selbst. Also erzählte er ihm Geschichten von der Geburt und dem Tod der Götter.

Eine weitere Generation des Lebens war vergangen, und weitere Lebensformen entwickelten sich. Die Titanen Kronos und Rhea zeugten die künftigen Götter des Olymp – darunter Jupiter. Dann führte Jupiter die neuen Götter in Menschengestalt gegen ein Bündnis der alten Titanen, Riesen und Ungeheuer. Es war ein Krieg um die Vorherrschaft im Kosmos selbst.

»Das Land wurde zerschmettert«, flüsterte Honorius. »Inseln stiegen aus der Tiefe empor. Berge stürzten ins Meer. Flüsse versiegten oder änderten ihren Lauf und überschwemmten das Land. Und die Ungeheuer starben, wo sie fielen.

Aber die Naturphilosophen«, fuhr Honorius fort, »haben seit jeher die Mythen zu widerlegen versucht – sie forschen nach natürlichen Ursachen –, und vielleicht haben sie auch recht. Manchmal gehen sie aber zu weit. Aristoteles sagt, dass Lebewesen sich immer nach dem Ebenbild ihrer Vorfahren fortpflanzen und dass die Arten des Lebens für alle Zeiten festgeschrieben seien. Wie will er damit aber die Gebeine der Riesen erklären, die wir aus der Erde holen? Aristoteles hat sein Lebtag lang wahrscheinlich keinen einzigen solchen Knochen gesehen. Bei dem Ding, das im Stein des Museums eingebettet ist, handelt es sich vielleicht um einen Greif oder auch nicht. Aber ist es nicht klar, dass die Knochen alt sind? Wie lang mag es wohl dauern, bis Sand in Gestein sich verwandelt? Was ist dieser Stein anderes als ein Beweis für verschiedene Zeiten in der Vergangenheit?

Schaut hinter die Geschichten. Lauscht der Essenz dessen, was die Mythen uns sagen: dass die Erde in der Vergangenheit von anderen Kreaturen bevölkert wurde – von Arten, die sich manchmal nach dem Ebenbild ihrer Vorfahren fortpflanzten und die manchmal Mischformen und Ungeheuer hervorbrachten, die sich von ihren Eltern grundlegend unterschieden. Wie man es an den Knochen sieht! Wie auch immer die Tatsachen sein mögen, ist es nicht klar, dass die Mythen einen wahren Kern haben? Denn sie sind das Ergebnis eines tausendjährigen Studiums der Erde und der Interpretation ihrer Bedeutung. Und doch…«

Athalarich legte seinem Freund die Hand auf den Arm. »Beruhigt Euch, Honorius. Wir verstehen Euch gut. Es ist nicht nötig, zu schreien.«

Der vor Erregung zitternde Honorius sagte: »Ich sage, wir dürfen die Mythen nicht ignorieren. Vielleicht sind sie Erinnerungen, die besten Erinnerungen, die wir an die großen Kataklysmen und außergewöhnlichen Ereignisse der Vergangenheit haben und die von Menschen geschaut wurden, die vielleicht kaum verstanden, was sie sahen – Menschen, die selbst vielleicht nur halbe Menschen waren.« Er sah, dass Athalarich die Stirn runzelte. »Ja, halbe Menschen!« Honorius präsentierte den Schädel mit dem menschlichen Gesicht und der affenartigen Hirnschale, den der Skythe ihm gegeben hatte. »Ein Mensch und doch kein Mensch«, murmelte er. »Das ist das größte Geheimnis überhaupt. Was kam vor uns? Was vermag eine solche Frage zu beantworten – was außer den Knochen? Mein Herr Skythe, Ihr sagtet mir, dass dieser Schädel aus dem Osten käme.«

»Der Skythe vermag nicht zu sagen, woher er stammt«, dolmetschte Papak. »Er ist durch viele Hände gegangen und nach Westen gereist, bis er Euch erreichte.«

»Und bei jedem Geschäft«, murmelte Athalarich beinahe hellsichtig, »ist zweifellos der Preis gestiegen.«

Papak wölbte die Augenbrauen, als er das hörte. »Man sagt, dass im Land der Leute mit der fahlen Haut und den schmalen Augen weit im Osten solche Knochen überall zu finden seien. Die Knochen werden zu Medizin und Liebespulver zermahlen und um den Ertrag der Felder zu steigern.«

Honorius beugte sich vor. »Dann wissen wir also, dass im Osten eine Rasse von Leuten mit menschlicher Gestalt, aber mit einem kleinen Kopf lebte. Tiermenschen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Und was, wenn ich euch sage, dass es im äußersten Westen, am Rand der Welt einst noch eine Rasse von Vor-Menschen gab – Menschen mit Körpern wie Bären und Köpfen wie Helme von Zenturios?«

Athalarich war perplex; davon hatte Honorius ihm noch nichts erzählt.

Der Skythe hob an zu sprechen. Seine fließenden Vokale und verschliffenen Konsonanten klangen wie ein Lied, das von Papaks hölzerner Übersetzung kaum beeinträchtigt wurde – ein Lied der Wüste, das in die schwüle italienische Nacht emporstieg.

»Er sagt, einst gab es viele Arten von Menschen. Sie sind nun alle verschwunden, diese Menschen, doch in den Wüsten und den Bergen überdauern sie in Geschichten und Liedern. Wir haben alles vergessen, sagt er. Einst war die Welt voller verschiedener Menschen und verschiedenster Tiere. Wir haben es nur vergessen.«

»Ja!«, rief Honorius und stand plötzlich mit gerötetem Gesicht auf. »Ja, ja! Wir haben fast alles vergessen, außer unscharfen Spuren, die in Mythen erhalten sind. Es ist eine Tragödie, eine Agonie der Einsamkeit. Ihr und ich, mein Herr Skythe, wissen nicht einmal mehr, wie wir miteinander sprechen sollen. Und dennoch versteht Ihr genauso gut wie ich, dass wir wie Flößer auf einem Floß auf einem weiten Meer unentdeckter Vergangenheit treiben. Kommt mit mir! Ich muss Euch die Gebeine zeigen, die ich gefunden habe – bitte, kommt doch mit mir!«

III

Athalarich und Honorius kamen aus Burdigala, einer Stadt des seit dreißig Jahren bestehenden gotischen Königreichs, das nun einen Großteil der ehemaligen römischen Provinzen Gallien und Spanien umspannte. Auf dem Rückweg mussten sie über den Flickenteppich aus Provinzen reisen, der sich nach der Aufhebung der römischen Herrschaft über Westeuropa gelegt hatte.

Die Beziehung zwischen Rom und den germanischen Stämmen des Nordens war seit jeher problematisch gewesen, weil die Germanen ständig gegen die lange, verwundbare Nordgrenze des alten Imperiums angestürmt waren. Seit Jahrhunderten hatten Germanen als Söldner für das Imperium gedient, und zuletzt hatten ganze Stämme sich dort ansiedeln dürfen – unter der Prämisse, dass sie als Bundesgenossen gegen gemeinsame Feinde jenseits der Grenze kämpfen würden. So war das Imperium zu einer Art Dachverband geworden, der nicht mehr nur von Römern bewohnt und beherrscht wurde, sondern auch von den vitaleren Germanen, Goten und Vandalen.