Als der Druck auf die Grenze immer stärker wurde – eine indirekte Auswirkung des gewaltigen Ansturms der Hunnen aus Asien –, war den Römern die Kontrolle schließlich ganz entglitten. Die Gouverneure und ihr Stab hatten sich aus dem Staub gemacht, und die letzten römischen Soldaten, die – schlecht bezahlt, schlecht ausgerüstet und demoralisiert – noch die Stellung hielten, hatten den Zusammenbruch der Ordnung nicht zu verhindern vermocht.
Auf diese Art war das weströmische Reich sang- und klanglos untergegangen. Neue Nationen entstanden aus dem politischen Chaos, und Sklaven wurden zu Königen.
Und so marschierten Athalarich und Honorius vom Königreich Odoakers, das Italien und die Reste der alten Provinzen von Rätien und Noricum im Norden umfasste, durch das Königreich der Burgunder, das sich vom Hinterland der Rhône in den Osten Galliens erstreckte, und die fränkische Grafschaft Soissons, bevor sie schließlich ihr Westgoten-Reich wieder erreichten.
Athalarich hatte schon befürchtet, dass der Ausflug ins versagende Herz des alten Imperiums ihm vielleicht in schonungsloser Offenheit den niedrigen Entwicklungsstand seines Volks vor Augen geführt hätte. Zuhause angekommen stellte er jedoch fest, dass eher das Gegenteil der Fall zu sein schien. Verglichen mit der morbiden Pracht Roms wirkte Burdigala durchaus klein, provinziell und primitiv, ja sogar hässlich. Burdigala expandierte jedoch. Große Bauvorhaben prägten das Hafenviertel, und im Hafen selbst lagen viele Schiffe vor Anker.
Rom war prächtig, aber es war tot. Dies war die Zukunft – seine Zukunft, die er mitgestalten würde.
Athalarichs Onkel Theoderich war ein entfernter Cousin von Eurich, dem gotischen König von Gallien und Spanien. Theoderich, der sich mit ehrgeizigen Plänen für seine Familie trug, hatte eine Art Zweitresidenz in einer alten, noblen Villa außerhalb von Burdigala bezogen. Als er die Kunde von den exotischen Besuchern vernahm, die Honorius und Athalarich mitgebracht hatten, bestand er darauf, dass sie in seiner Villa Quartier nahmen und plante sofort eine Art Tournee, um die Fremden zu präsentieren und mit den Taten und Reiseabenteuern seines Neffen hausieren zu gehen.
Auf dieser ›Tournee‹ wollte Theoderich Angehörige des neuen gotischen Adels und römische Aristokraten unterhalten.
Wenn das alte Imperium auch die politische Kontrolle verloren hatte, die kulturelle Dominanz des tausend Jahre alten Reichs bestand nach wie vor. Die neuen germanischen Führer waren bereit, von den Römern zu lernen. So hatte der Gotenkönig Eurich die Gesetze seines Königreichs von römischen Rechtsgelehrten formulieren und in Latein veröffentlichen lassen; es war dieses Gesetzeswerk, das Athalarich bei Honorius studieren sollte. Inzwischen hatte die alte Aristokratie des Imperiums sich auch mit den Neuankömmlingen arrangiert. Viele von ihnen, die eine Jahrhunderte lange ›Erwerbsbiographie‹ hatten, blieben so reich und mächtig wie bisher.
Auch nach dem Besuch Roms entbehrte es für Athalarich nicht einer gewissen Ironie, dass diese in Togen gehüllten Sprösslinge alter Familien, von denen viele immer noch kaiserliche Titel trugen, sich unter in Leder gekleideten Barbaren-Adligen unbefangen in Räumen bewegten, deren kunstvolle Fresken und Mosaiken mit rustikaleren Bildern eines Kriegervolks übermalt worden waren: Sie zeigten Reiter mit Helmen, Schilden und Lanzen. Man vermochte einzuwenden – und Honorius machte diese Einwendungen auch geltend –, dass durch die Gier, der sie über Jahrhunderte verhaftet gewesen waren, diese Leute das Reich zerstört hatten, das sie hervorgebracht hatte. Jedoch bedeutete für diese Aristokraten der Austausch des gewaltigen imperialen Überbaus durch das neue System gotischer und burgundischer Häuptlinge keine wesentliche Beeinträchtigung.
Vielmehr schien der Zusammenbruch des römischen Reiches ein paar von ihnen ganz neue geschäftliche Möglichkeiten eröffnet zu haben.
Wenn Theoderich aber geglaubt hatte, den Skythen wie eine Trophäe vorzeigen zu können, hatte er sich getäuscht. Der Mann aus der Wüste schien das stilvolle Atrium, die Gärten und Zimmer der Villa nicht zu goutieren. Er zog es stattdessen vor, die Zeit in dem Raum zu verbringen, den Theoderich ihm angewiesen hatte. Aber er verschmähte das Bett und das übrige Mobiliar des Zimmers; er rollte die Decke aus, die er immer bei sich hatte und spannte sie wie eine Zeltplane auf. Es war, als ob er ein Stück Wüste nach Gallien gebracht hätte.
Wenn der Skythe eine gesellschaftliche Enttäuschung war, so war Papak ein umso größerer Erfolg, wie Athalarich bereits gemutmaßt hatte. Der Perser mit dem exotischen Touch mischte sich ungezwungen unter Theoderichs Gäste, ob Barbaren oder Römer. Er flirtete hemmungslos mit den Frauen und fesselte die Männer mit seinen Geschichten von den besonderen Gefahren, die im Osten lauerten. Alle waren begeistert.
Eine von Papaks beliebtesten Neuerungen war Schach. Das war ein Spiel, sagte er, welches kürzlich zur Erbauung des persischen Hofes erfunden worden war. Niemand in Gallien hatte bisher davon gehört, und Papak bat einen von Theoderichs Tischlern, ein Schachbrett und Spielfiguren für ihn anzufertigen. Das Spiel wurde auf einem Brett mit vierundsechzig Feldern gespielt, über das Figuren in Gestalt von Kriegern und Pferden zogen und sich bekämpften. Die Regeln waren einfach, aber es kam auch in erster Linie auf die Strategie an. Die Goten – die noch immer mit ihren Heldentaten prahlten, obwohl viele von ihnen seit zwanzig Jahren kein Pferd mehr aus der Nähe gesehen hatten –, fanden Gefallen am sublimierten Kampf des Spiels. Die ersten Turniere waren ebenso kurz wie blamabel. Doch unter Papaks taktvoller Anleitung erfassten die besseren Spieler bald die Feinheiten des Spiels, und die Partien wurden länger und interessanter.
Und was Honorius betraf, so ärgerte er sich darüber, dass die Salonspiele eines Persers um so viel spannender empfunden wurden als seine Geschichten von alten Knochen. Allerdings war der alte Mann noch nie ein Salonlöwe gewesen, sagte Athalarich sich voller Mitgefühl, und noch viel weniger ein Intrigant bei Hofe. Honorius blieb lieber bei seinem Backgammon, das er mit seinen alten Aristokratenfreunden spielte -›das Spiel Platos‹, wie er es nannte.
Nach ein paar Tagen rief Theoderich seinen Neffen in einen privaten Raum.
Zu seiner Überraschung fand Athalarich dort Galla vor. Die große, dunkelhaarige Galla mit der klassischen Nase ihrer römischen Vorfahren war die Frau eines prominenten Bürgers der Stadt. Mit vierzig war sie etwa zwanzig Jahre jünger als ihr Mann, und es war allgemein bekannt, dass sie zuhause ›das Sagen hatte‹.
Mit einem bedrückten Ausdruck im bärtigen Gesicht legte Theoderich seinem Neffen die Hand auf den Arm. »Athalarich, wir brauchen deine Hilfe.«
»Ihr habt einen Auftrag für mich?«
»Nicht ganz. Wir haben einen Auftrag für Honorius, und wir möchten, dass du ihn dazu überredest, ihn anzunehmen. Wir wollen versuchen, es dir zu erklären…«
Während Theoderich sprach, spürte Athalarich, wie Galla ihn mit kühlen Augen musterte und dabei die vollen Lippen leicht geöffnet hatte. Es kursierte der Mythos unter den letzten Römern, dass die Barbaren eine junge und vitale Rasse seien. Wenn Galla mit Männern intim wurde, die in ihren Augen kaum besser als Wilde waren, suchte sie vielleicht die animalische Kraft, die sie in der Ehe mit einem verweichlichten römischen Bürger vermisste.
Athalarich, der gerade einmal fünf Jahre älter war als Gallas Zwillinge, wollte sich aber nicht als Spielzeug für eine dekadente Aristokratin hergeben. Er erwiderte ihren Blick kühl und desinteressiert.