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Dieses subtile Spiel fand statt, ohne dass Theoderich auch nur das Geringste davon mitbekommen hätte.

»Athalarich«, sagte Galla nun, »wenn ich mich recht erinnere, war Eurichs Königreich vor drei Jahrzehnten noch eine föderale Siedlung innerhalb des Imperiums. Die Dinge haben sich schnell verändert. Aber es gibt strikte Grenzen zwischen unseren Völkern. Sie betreffen Eheschließungen, das Gesetz und sogar die Kirche.«

»Sie hat recht, Athalarich«, sagte Theoderich seufzend. »Es gibt viele Spannungen in unsrer jungen Gesellschaft.«

Athalarich wusste, dass dem so war. Die neuen Barbaren-Herrscher lebten nach ihren traditionellen Gesetzen, die sie als Teil ihrer Identität betrachteten, wogegen ihre Untertanen am römischen Recht festhielten, das sie als universales Regelwerk betrachteten. Auseinandersetzungen über unterschiedliche Bestimmungen in beiden Systemen waren an der Tagesordnung. Ehen zwischen den Völkern waren zwischenzeitlich auch verboten worden. Obwohl alle Ethnien christlich waren, folgten die Goten den Lehren des Arius, was ihnen die Feindschaft ihrer überwiegend katholischen Untertanen eintrug. Und so weiter.

All das behinderte die Assimilierung, die die alten Römer für so viele Jahrhunderte so erfolgreich betrieben hatten – eine Assimilation, die Stabilität und sozialen Frieden garantiert hatte. Wäre dieses Land noch immer unter römischer Herrschaft gewesen, dann hätte Theoderich die besten Aussichten gehabt, ein gleichberechtigter römischer Bürger zu werden. Doch die Söhne von Galla würden von den Goten niemals als gleichberechtigt anerkannt und von der Macht ausgeschlossen werden.

Athalarich hörte höflich zu. »Es ist schwierig, aber wenn Honorius mich etwas gelehrt hat, dann das, dass die Zeit lang ist und dass sich mit der Zeit alles ändert. Vielleicht werden diese Schranken eines Tages fallen.«

Theoderich nickte. »Ich glaube das auch. Deshalb habe ich dich auch auf eine römische Schule geschickt und dann zu Honorius.« Er stieß ein glucksendes Lachen aus. »Mein Vater hätte das niemals erlaubt. Er hatte für Schulen nichts übrig! Wenn du nun lernst, den Riemen eines Lehrers zu fürchten, wirst du niemals lernen, einem Schwert oder Speer furchtlos entgegenzutreten. Für ihn waren wir in erster Linie Krieger. Aber wir, die heutige Generation, ist anders.«

»Umso besser«, sagte Galla. »Das Imperium wird nie mehr auferstehen. Aber ich glaube fest daran, dass eines Tages, aus der Verbindung unserer Völker hier und auf dem ganzen Kontinent, eine neue Macht mit einer neuen Vision entstehen wird.«

Athalarich hob die Augenbrauen. Irgendwie erinnerte ihr Ton ihn unangenehm an Papak, und er fragte sich, was sie seinem Onkel wohl unterjubeln wollte. »Aber in der Zwischenzeit«, sagte er trocken, »bevor dieser wunderbare Tag kommt…«

»In der Zwischenzeit mache ich mir Sorgen um meine Kinder.«

»Wieso? Sind sie in Gefahr?«

»Eigentlich schon«, sagte Galla und machte kein Hehl aus ihrer Verärgerung. »Ihr seid zu lang fort gewesen, junger Mann, oder Ihr habt Euch zu sehr in Honorius’ Lehren vertieft.«

»Es haben Übergriffe stattgefunden«, sagte Theoderich. »Beschädigung von Eigentum, Brandstiftung, Diebstahl.«

»Gegen die Römer gerichtet?«

»Leider ja«, sagte Theoderich seufzend. »Ich, der ich mich noch daran erinnere, wie es einmal war, möchte das erhalten, was am Imperium am besten war – Stabilität, Frieden, Bildung, ein gerechtes Rechtssystem. Aber die Jungen wissen nichts mehr von alledem. Wie ihre Vorfahren, die ein einfaches Leben in den nördlichen Ebenen führten, hassen sie das, was sie vom Imperium wissen: Macht über das Land, die Menschen und den Reichtum, von dem sie ausgeschlossen waren.«

»Und deshalb wollen sie die bestrafen, die noch übrig sind«, sagte Athalarich.

»Wieso sie sich so verhalten, spielt kaum eine Rolle«, sagte Galla. »Die Frage ist nur, was getan werden muss, um ihnen Einhalt zu gebieten.«

»Ich habe Milizen aufgestellt. Doch wenn die Unruhen an einem Ort niedergeschlagen werden, brechen sie an einem andern wieder aus. Was wir brauchen, ist eine langfristige Lösung. Wir müssen das Gleichgewicht wiederherstellen.« Theoderich lächelte. »Es ist eine Paradoxie, dass ich es als notwendig erachte, unsere Römer wieder zu stärken.«

Athalarich schnaubte. »Und wie? Indem man ihnen eine Legion gibt? Oder indem man Augustus von den Toten wiederauferstehen lässt?«

»Viel einfacher«, sagte Galla unbeeindruckt von seinem Sarkasmus. »Wir brauchen einen Bischof.«

Nun begriff Athalarich.

»Bedenkt, es war Papst Leo, der Attila dazu bewog, vor den Toren Roms umzukehren«, sagte Galla.

»Deshalb bin ich also hier. Ihr wollt Honorius zum Bischof machen. Und ich soll ihn dazu überreden, dieses Amt zu übernehmen.«

Theoderich nickte erfreut. »Galla, ich sagte Euch doch, dass der Junge ein kluger Kopf ist.«

Athalarich schüttelte den Kopf. »Er wird nicht wollen. Honorius ist nicht… weltlich. Er ist nur an seinen alten Knochen interessiert, nicht an Macht.«

»Aber wir haben zu wenige Kandidaten, Athalarich«, sagte Theoderich. »Verzeiht mir, meine Dame, aber zu viele der römischen Adligen haben sich als Narren erwiesen – als arrogant, habgierig, anmaßend…«

»Das gilt auch für meinen Mann«, sagte Galla ungerührt. »Die Wahrheit auszusprechen ist keine Beleidigung, mein Herr.«

»Honorius ist der einzige, dem man wirklich Respekt entgegenbringt«, sagte Theoderich. »Vielleicht gerade wegen der fehlenden Weltlichkeit.« Er musterte Athalarich. »Wenn das nicht so wäre, hätte ich dich nie in seine Obhut zu geben vermocht.«

Galla beugte sich vor. »Ich verstehe Eure Bedenken, Athalarich. Aber werdet Ihr es dennoch versuchen?«

Athalarich zuckte die Achseln. »Ich will es versuchen, aber…«

Galla stieß die Hand vor und packte ihn am Arm. »Solange er lebt, ist Honorius der einzige Anwärter für das Amt; kein anderer vermag es auszufüllen. Solange er lebt. Ich vertraue darauf, dass Ihr alles versucht, um ihn zu überzeugen, Athalarich.«

Plötzlich sah Athalarich Kraft in ihr: die Macht eines alten Imperiums, die Stärke einer zornigen, bedrängten Mutter. Er riss sich von ihr los, verwirrt durch ihr plötzliches energisches Auftreten.

Honorius bereitete sich auf die letzte Etappe der epischen Reise vor, die mit der Begegnung mit dem Skythen am Rand der östlichen Wüste ihren Anfang genommen hatte.

Eine Reisegesellschaft formierte sich. Der Kern bestand aus Honorius, Athalarich, Papak und dem Skythen – die alte Besetzung. Doch wurden sie nun von Theoderichs Milizen eskortiert, denn außerhalb der Städte war das Land alles andere als sicher, einer Handvoll neugieriger junger Goten und sogar von ein paar Mitgliedern der alten römischen Familien.

Sie traten die Reise westwärts an.

Es fügte sich, dass sie auf den Spuren von Roods Jagdgesellschaft gingen, die vor dreißigtausend Jahren hier durchgekommen war. Das Eis indes hatte sich längst in den hohen Norden zurückgezogen – schon vor so langer Zeit, dass die Menschen vergessen hatten, dass es überhaupt bis hierher gekommen war. Rood hätte dieses reiche Land mit dem gemäßigten Klima nicht mehr wieder erkannt. Und er hätte auch über die Anzahl der Menschen gestaunt, die nun hier lebten – wie auch Athalarich gestaunt hätte, wenn er Roods Mammutherden ansichtig geworden wäre, die durch ein menschenleeres Land zogen.

Schließlich war das Land zu Ende. Sie gelangten zu einer Kalksteinklippe. Das vom Zahn der Zeit angenagte Kliff schaute auf den wogenden Atlantik hinaus. Über das karge Plateau oberhalb der Klippe fegte der Wind; dort wuchs nichts außer ein paar Gräsern, die von Kaninchendung durchsetzt waren.