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Während die Träger die Ausrüstung der Reisegesellschaft aus den Wagen luden, ging der Skythe allein zum Rand der Klippe. Der Wind zerzauste sein flachsblondes Haar und wehte es ihm ins Gesicht. Für Athalarich war das ein bemerkenswerter Anblick. Dort stand ein Mann, der das Sandmeer im Osten geschaut hatte und den es nun an den westlichen Rand der Welt verschlagen hatte. Stumm zollte er Honorius’ Vision Beifall; wie auch immer der Skythe Honorius rätselhafte Knochen deutete, der alte Mann hatte jetzt schon für einen großen Moment gesorgt.

Obwohl die Mitglieder der Reisegesellschaft müde waren von der langen Reise von Burdigala, drängte Honorius auf den Abschluss der ›Mission‹. Er gestattete ihnen nur eine kurze Rast zum Essen und Trinken und zur Verrichtung ihrer Notdurft. Dann führte Honorius sie frohgemut zur Steilwand. Athalarich sah, dass der Rest der Gruppe ihm folgte – außer zwei von Papaks Trägern, die lieber Fallen für die Kaninchen auslegten, die hier eine wahre Landplage waren.

Unterwegs versuchte Athalarich Honorius erneut davon zu überzeugen, das Amt des Bischofs anzunehmen.

Das hätte auch einen Sinn ergeben. Nachdem die alte Zivilverwaltung des Imperiums zusammengebrochen war, hatte die unbeschadet daraus hervorgegangene Kirche sich als starke Bastion erwiesen, und ihre Bischöfe hatten einen Zuwachs an Ansehen und Macht erfahren. Die meisten dieser Kirchenmänner hatten sich aus der alten Aristokratie des Imperiums rekrutiert, die über Bildung verfügte, über administrative Erfahrung, die sie durch die Leitung ihrer Latifundien erworben hatten und über eine Tradition als örtliche Führungskräfte. Ihre theologische Kompetenz war indes weniger ausgeprägt, aber die zählte auch weniger als Schläue und praktische Erfahrung. In so unruhigen Zeiten wie diesen hatten weltliche Kleriker sich als fähig erwiesen, die römische Bevölkerung zu schützen, indem sie zum Schutz der Städte aufriefen, die Verteidigung organisierten und sogar Männer in die Schlacht führten.

Wie Athalarich schon erwartet hatte, lehnte Honorius das Angebot rundweg ab. »Will die Kirche uns denn alle usurpieren?«, echauffierte er sich. »Muss ihr Schatten auf die ganze Welt fallen und alles verdunkeln, was wir in über tausend Jahren geschaffen haben?«

Athalarich seufzte. Er hatte kaum eine Ahnung, wovon der alte Mann überhaupt sprach, aber wenn er mit Honorius sprechen wollte, musste er sich auf ihn einlassen. »Honorius, bitte – das hat nichts mit Geschichte zu tun, nicht einmal mit Theologie. Es geht hier nur um befristete Macht. Und um Bürgerpflicht.«

»Bürgerpflicht? Was soll das denn heißen?« Aus einem Beutel holte er den uralten menschlichen Schädel, den der Skythe ihm gegeben hatte und fuchtelte ärgerlich damit herum. »Dies war eine Kreatur, halb Mensch und halb Tier. Und doch war sie eindeutig wie wir. Aber was sind dann wir? Ein viertel Tier, ein Zehntel? Der Grieche Galen hat vor zwei Jahrhunderten gesagt, der Mensch sei nicht mehr als eine Spielart des Affen. Werden wir jemals aus dem Schatten des Tiers heraustreten? Was würde ›Bürgerpflicht‹ für einen Affen bedeuten außer irgendwelche Mätzchen?«

Zögerlich berührte Athalarich den alten Mann am Arm. »Aber selbst wenn das wahr wäre, selbst wenn wir vom Vermächtnis einer tierischen Vergangenheit regiert würden, müssen wir uns so verhalten, als ob es nicht wahr wäre.«

Honorius lächelte gezwungen. »Wirklich? Aber alles, was wir erschaffen, ist vergänglich, Athalarich. Wir sehen es doch selbst. In meiner Lebenszeit ist ein tausendjähriges Reich schneller zerfallen, als der Mörtel in den Mauern Roms zerbröselte. Wenn alles vergänglich ist außer unserer grausamen Natur, worauf sollen wir dann überhaupt noch hoffen? Selbst ein Glauben verschrumpelt wie die letzten Weintrauben eines Rebstocks.«

Athalarich verstand; dies war eine Sorge, die Honorius immer wieder geäußert hatte. In den letzten Jahrhunderten des Imperiums war das Erziehungs- und Bildungswesen verfallen. In den Köpfen der verdummten Massen, die durch billige Nahrungsmittel und die barbarischen Spiele in den Arenen ruhig gestellt wurden, waren die Werte, auf denen Rom gegründet war, und der Rationalismus der alten Griechen von Mystizismus und Aberglaube verdrängt worden. Es war, so hatte Honorius seinem Schüler vermittelt, als ob eine ganze Kultur den Verstand verlöre. Die Leute verlernten die Fähigkeit zu denken, und bald würden sie auch vergessen haben, dass sie überhaupt etwas vergessen hatten. Und in Honorius’ Augen verschärfte das Christentum dieses Problem nur noch.

»Der Heilige Augustin hatte uns bereits davor gewarnt, dass der Glaube an die alten Mythen schwindet – schon vor anderthalb Jahrhunderten, als die Lehre der Christen gerade erst Wurzeln schlug. Und mit dem Verlust der Mythen verschwindet auch das Wissen von tausend Jahren, das in diesen Mythen kodifiziert ist, und die starren Dogmen der Kirche werden einen echten Erkenntnisgewinn für die nächsten tausend Jahre verhindern. Das Licht erlischt, Athalarich.«

»Dann übernehmt Ihr das Bischofsamt«, sagte Athalarich eindringlich. »Schützt die Klöster. Gründet ein eigenes, wenn Ihr müsst! Und in der Bibliothek und im scriptorium mögen die Mönche die großen Schriften bewahren und abschreiben, bevor sie verloren sind.«

»Ich kenne diese Klöster«, spie Honorius förmlich aus. »Die großen Werke der Vergangenheit abschreiben zu lassen, als seien sie Zaubersprüche, und noch dazu von Tölpeln, in deren Köpfen Gott herumspukt – pah! Dann würde ich sie eher selbst verbrennen.«

Athalarich unterdrückte ein Seufzen. »Augustinus fand Trost in seinem Glauben, musst du wissen. Er glaubte, das Imperium sei von Gott erschaffen worden, um die Botschaft Christi zu verbreiten – wie konnte Er es also zulassen, dass es zusammenbrach? Augustinus gelangte jedoch zu der Überzeugung, dass die Geschichte einen göttlichen und keinen weltlichen Zweck habe. Und dass der Fall von Rom deshalb auch keine Rolle spiele.«

Honorius betrachtete ihn listig. »Wenn du nun ein Diplomat wärst, würdest du mich darauf hinweisen, dass der arme Augustinus gerade zu der Zeit gestorben sei, als die Vandalen Nordafrika heimsuchten. Und du würdest sagen, dass, wenn er seine Aufmerksamkeit mehr den weltlichen als den geistigen Dingen gewidmet hätte, er vielleicht noch etwas länger gelebt und mehr Zeit für seine Studien gehabt hätte. Das solltest du sagen, wenn du mich dazu überreden willst, das verdammte Bischofsamt anzunehmen.«

»Es freut mich, dass Eure Stimmung sich wieder hebt«, sagte Athalarich trocken.

Honorius berührte seine Hand. »Du bist ein guter Freund, Athalarich. Ein besserer, als ich ihn verdiene. Aber ich werde das Geschenk deines Onkels, das Amt eines Bischofs, trotzdem nicht annehmen. Gott und Politik sind nicht meine Passion; ich will mich weiter den Knochen widmen und ansonsten dem Müßiggang frönen… Wir sind gleich da!«

Sie hatten die Abbruchkante der Klippe erreicht.

Zu Honorius’ Leidwesen war der Pfad, an den er sich erinnerte, überwuchert. Zumal es sich ohnehin um kaum mehr als einen Sims im mürben Gestein der Klippe handelte, der vielleicht von Ziegen oder Schafen ausgetreten worden war. Die Milizionäre beseitigten mit ihren Speeren Unkraut und Gräser. »Es ist schon viele Jahre her, seit ich zuletzt hier war«, sagte Honorius atemlos.

»Mein Herr, damals wart Ihr jünger, viel jünger«, sagte Athalarich ernst. »Ihr müsst gut aufpassen beim Abstieg.«

»Was kümmert mich die Beschwernis? Athalarich, wenn der Pfad zugewachsen ist, ist er nicht mehr benutzt worden, seit ich zum letzten Mal hier war, und wenn die Knochen, die ich gefunden habe, noch unberührt sind – verglichen damit wäre alles andere eine Nichtigkeit. Sieh, der Skythe hat sich schon an den Abstieg begeben, und ich will seine Reaktion sehen… Komm, komm!«

Die Gruppe formierte sich zu einer Linie und ging im Gänsemarsch vorsichtig den gefährlichen Pfad hinab. Honorius bestand darauf, allein zu gehen – der Pfad war ohnehin so schmal, dass zwei Leute kaum nebeneinander zu gehen vermochten –, doch Athalarich ging voran, sodass er den alten Mann wenigstens aufzufangen vermocht hätte, falls er fiel.