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Sie erreichten eine Höhle im weichen Kalksandstein und schwärmten aus. Die Milizionäre stocherten mit den Speeren an den Wänden und auf dem Boden herum.

Athalarich betrat vorsichtig die Höhle. Der Boden im Bereich des Eingangs war von Guano fast weiß gefärbt und mit Eierschalen übersät. Die Wände und der Boden waren fast glatt geschliffen, als ob Tiere oder Menschen hier ein- und ausgegangen wären. Athalarich stieg ein starker tierischer Geruch in die Nase, vielleicht von Füchsen, aber er war schal. Offenbar hatte sich außer den Seevögeln seit langer Zeit niemand hier aufgehalten.

Doch genau an dieser Stelle hatte ein jüngerer Honorius die kostbaren Gebeine gefunden.

Honorius streifte in der Höhle umher, inspizierte den Boden und räumte mit den Füßen trockenes Laub und Seetang beiseite. Bald hatte er gefunden, wonach er suchte. Er kniete sich hin und beseitigte mit den Fingern vorsichtig den Schutt. »Es ist noch wie damals, als ich sie gefunden hatte. Ich habe sie auch genauso zurückgelassen, weil ich die Gebeine nicht stören wollte.«

Die anderen scharten sich um ihn. Athalarich bemerkte abwesend, dass ein junger Römer, ein Mann aus Gallas Gefolge, sich auffällig dicht hinter Honorius stellte. Aber der Junge wirkte nicht gefährlich, bloß neugierig.

Und alle waren beeindruckt, als Honorius sachte seinen knöchernen Schatz ans Licht brachte. Athalarich sah auf den ersten Blick, dass es sich um ein menschliches Skelett handelte. Das musste aber ein besonders kräftiger Mensch gewesen sein, sagte er sich, mit schweren Knochen und langen Fingern. Und dass der Schädel deformiert war, das heißt mit einem Loch im Hinterkopf, das vielleicht von einem Schlag herrührte. Der Boden unter den Knochen war mit Muschelschalen und Feuersteinen übersät.

Honorius erläuterte die Besonderheiten der Fundstelle. »Schaut hier. Er hat Muscheln gegessen. Die Schalen sind versengt; wahrscheinlich hat er sie ins Feuer geworfen, um sie zu öffnen. Und ich glaube, diese Feuersteinsplitter sind Abfälle von einem Werkzeug, das er sich angefertigt hatte. Er war eindeutig menschlich, aber nicht so wie wir. Seht diesen Schädel, mein Herr Skythe! Diese kräftigen Brauen, die simsartigen Wangenknochen – habt Ihr so etwas jemals gesehen?« Er warf Athalarich mit leuchtenden Augen einen Blick zu. »Es ist, als ob wir in eine andere Zeit zurückversetzt worden wären, als ob es uns Jahrtausende in die Vergangenheit verschlagen hätte.«

Der Skythe bückte sich, um den Schädel in Augenschein zu nehmen.

Und dann geschah es.

Der junge Römer hinter Honorius machte einen Schritt nach vorn. Athalarich sah seinen vorstoßenden Arm, hörte ein leises Knirschen. Blut spritzte. Honorius brach über den Knochen zusammen.

Die Leute wichen entsetzt zurück. Papak quiekte wie ein ängstliches Schwein. Doch der Skythe fing Honorius auf und legte ihn auf den Boden.

Athalarich sah, dass Honorius’ Hinterkopf zertrümmert war. Er stürzte sich auf den jungen Mann, der hinter Honorius gestanden hatte und packte ihn an der Tunika. »Du warst es – ich habe es gesehen – da warst es. Warum? Er war doch ein Römer wie du, einer von euren eigenen…«

»Es war ein Unfall«, sagte der junge Mann ungerührt.

»Lügner!« Athalarich schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass er aus Mund und Nase blutete. »Wer hat dich gedungen? Galla?« Athalarich holte zu einem weiteren Schlag gegen den Mann aus, doch starke Arme schlangen sich um seine Taille und zogen ihn weg. Athalarich zappelte in ihrem Griff und wandte sich an die anderen. »Helft mir. Ihr habt gesehen, was geschehen ist. Der Mann ist ein Mörder!«

Aber sie schauten ihn nur ausdruckslos an.

Und dann verstand Athalarich.

Das war alles geplant gewesen. Nur der entsetzte Papak und vermutlich auch der Skythe hatten nichts von diesem Mordplan gewusst – und Athalarich selbst, der Barbar, der mit den Gepflogenheiten einer mächtigen Zivilisation noch viel zu wenig vertraut war, als dass er sich ein solches Komplott überhaupt vorzustellen vermocht hätte. Durch die Ablehnung, das Bischofsamt zu übernehmen, war Honorius ein Störfaktor für Goten und Römer gleichermaßen geworden. Die Urheber dieser ebenso sinnlosen wie üblen Verschwörung hatten sich keinen Deut um Honorius’ Knochen geschert; den Ausflug ans Meer hatten sie nur als günstige Gelegenheit betrachtet. Vielleicht würden sie die Leiche des armen Honorius sogar ins Meer werfen und nicht einmal nach Burdigala überführen, um eine unangenehme Untersuchung zu vermeiden.

Dann riss Athalarich sich los und eilte zu Honorius. Der alte Mann, dessen zerschmetterter Kopf in den Armen des Skythen ruhte, atmete noch, hatte die Augen jedoch geschlossen.

»Lehrer. Hört Ihr mich?«

Zu seinem Erstaunen schlug Honorius noch einmal die Augen auf. »Athalarich?« Die Augen drehten sich langsam in den Höhlen. »Ich hörte ein lautes Knirschen, als wäre mein Kopf ein Apfel, in den jemand kraftvoll hineingebissen hätte…«

»Nicht sprechen.«

»Hast du die Knochen gesehen?«

»Ja, ich habe sie gesehen.«

»Es war auch ein Mensch der Dämmerung, nicht wahr?«

»Mensch der Dämmerung«, sagte da der Skythe in stark akzentuiertem, aber verständlichem Latein. Athalarich war geschockt.

»Ah«, seufzte Honorius. Dann packte er Athalarichs Hand so fest, dass es schmerzte.

Athalarich war sich des stummen Kreises um sich herum bewusst, der Männer aus dem Osten, der Goten und der Römer, die alle außer dem Skythen und dem Römer Komplizen in diesem Mord waren. Der Händedruck erschlaffte. Ein letzter Schauder, und Honorius war tot.

Der Skythe legte Honorius’ Leiche vorsichtig auf die Knochen, die er entdeckt hatte – Neandertaler-Gebeine, die Knochen eines Geschöpfs, das sich selbst als den Alten Mann betrachtet hatte –, und die Blutlache tränkte langsam den steinigen Boden.

Der Wind drehte. Eine salzige Brise von der See wehte in die Höhle.

KAPITEL 16

Ein tropisches Flussufer

Darwin, Nördliches Territorium, Australien, 2031 n. Chr.

I

In Rabaul entfalteten die Ereignisse sich nach einer unerbittlichen Logik, als ob der große Vulkan und die in ihm verborgene Tasche aus Magma eine riesige geologische Maschine seien.

Der erste Spalt tat sich im Boden auf. Eine große Wolke aus Asche stieg in den rauchigen Himmel empor, und rot glühende Gesteinsschmelze schoss wie eine Fontäne heraus. Obwohl das aufsteigende Magma sich noch immer etwa fünf Kilometer unter der Erdoberfläche konzentrierte, hatte Rabauls dünne Kruste dem Druck nicht mehr standgehalten.

Darwin wurde von heftigen Beben erschüttert.

Es war das Ende des ersten Konferenztags. Die Teilnehmer kehrten von den verschiedenen Lokalitäten, in denen sie zu Abend gegessen hatten, zurück und strömten in die Hotelbar. Joan saß auf einem Sofa, hatte die Füße auf den Tisch gelegt und beobachtete die Leute, die sich mit Drinks, Joints und Pillen in kleinen Gruppen versammelten und aufgeregt durcheinander redeten.

Die Delegierten waren typische Akademiker, sagte Joan sich amüsiert. Eine Kleiderordnung kannten sie nicht, sondern sie waren ganz nach Gusto gekleidet. Man trug die signalorangefarbenen Sakkos und grünen Hosen, die von Europäern wie Holländern und Deutschen bevorzugt zu werden schienen, Sandalen, T-Shirts und Shorts der kleinen kalifornischen Abordnung und sogar ein paar ostentativ getragene Volkstrachten. Akademiker kokettierten immer damit, dass sie einfach anzogen, was sie gerade aus dem Kleiderschrank zogen, doch mit ihrer ›unbewussten‹ Wahl gaben sie mehr über ihre Persönlichkeit preis als Leute, die jeder Mode hinterher hechelten – wie zum Beispiel die Alison Scotts dieser Welt.