Und dabei waren sie noch nicht einmal die größten Pflanzenfresser – diese Ehre gebührte nämlich den riesigen Brachiosauriern, die bis zu siebzig Tonnen schwer waren und Bäume wie Streichhölzer knickten. Jedoch waren die Brachiosaurier Einzelgänger und schlossen sich höchstens zu kleinen Gruppen zusammen. Die aus bis zu hundert Tieren bestehenden Diplo-Herden hatten das Land geprägt wie keine andere Spezies vor oder nach ihnen.
Diese lose Herde war seit zehntausend Jahren zusammen und seitdem immer nach Osten gewandert. Die Mitglieder wechselten zwar, aber die Struktur blieb unverändert. Es gab allerdings auch genug Platz für solch gewaltige Wanderungen.
Die Erde des Jura bestand aus einem einzigen, riesigen Kontinent: Pangäa, was ›alles Land der Erde‹ bedeutete. Es war eine mächtige Landmasse. Südamerika und Afrika waren noch nicht getrennt und bildeten einen Teil der mächtigen Gesteinsplattform. Ein riesiger Fluss entwässerte das Herz des Superkontinents – Kongo und Amazonas waren ein einziger gewaltiger Strom, der von Osten nach Westen verlief und unbehindert durch die Anden, die sich erst viel später auffalteten, in den Ozean mündete.
Der Zusammenschluss der Kontinente hatte eine große Welle des Artensterbens ausgelöst. Das Verschwinden von Gebirgs- und Meeresbarrieren hatte eine Vermischung von Pflanzen und Tieren erzwungen. Nun erstreckte eine einheitliche Flora und Fauna sich über ganz Pangäa – von Küste zu Küste, von Pol zu Pol. Diese Einheitlichkeit hatte noch immer Bestand, obwohl gewaltige tektonische Kräfte schon an der Aufspaltung der riesigen Landmasse arbeiteten. Nur ein paar Arten hatten den Zusammenschluss überlebt: Insekten, Amphibien, Reptilien – und Proto-Säugetiere, reptilienartige Kreaturen, die schon Merkmale von Säugetieren aufwiesen. Sie waren plumpe, hässliche und unfertige Geschöpfe. Doch aus diesen paar Spezies würden schließlich die Säugetiere hervorgehen – einschließlich der Menschen – und die Linien der Vögel, Krokodile und Dinosaurier.
Wie als Reflex auf die unendliche Weite der Landschaft, in der sie lebten, waren die Diplos gewachsen. In diesen Zeiten mit einer gemischten Vegetation, deren Bestandteile noch dazu ständig wechselten, gereichte diese Größe ihnen sicher zum Vorteil. Mit dem langen Hals vermochte ein Diplo methodisch eine große Fläche abzuweiden, ohne dass es sich vom Fleck bewegen musste. Es fraß den gesamten Bodenbewuchs ab, einschließlich der unteren Äste der Bäume.
In den klugen Ornithen war den Diplos jedoch eine neue Gefahr erwachsen, eine Gefahr, auf die die Evolution sie nicht vorbereitet hatte. Jedoch hatte die Matriarchin in einem über hundertjährigen Leben eine gewisse Weisheit erlangt, und die vom Alter blutunterlaufenen Augen kündeten vom Verständnis der plötzlich auftauchenden Gefahren, die auf ihre Art lauerten.
Nun war für die geduldigen Ornithen die Gelegenheit gekommen.
Die Diplos weideten sich noch immer im verwüsteten Ginkgo-Hain. Sie hatten sich sternförmig formiert. Die Köpfe auf den langen Hälsen wanderten wie die Klauen mechanischer Kirschpflücker über die verstreuten Blätter. Die Jungtiere hatten sich in der Nähe versammelt, waren in diesem Moment aber von den Erwachsenen ausgeschlossen.
Ausgeschlossen, vergessen, schutzlos.
Stego guckte sich ein Diplo-Junges aus. Es war kleiner als die anderen, nicht größer als ein ausgewachsener Elefant – ein richtiger Kümmerling eben. Es hatte Mühe, sich gegen die anderen durchzusetzen. Auf der Suche nach einem Platz an der Futterstelle streifte es mit ruderndem Kopf am Rand der Herde entlang.
Es gab keine echte Loyalität unter den Diplos. Die Herde war ein reiner Zweckverband und kein fürsorglicher Familienverbund. Diplos legten ihre Eier am Waldrand ab und überließen sie dann sich selbst. Die überlebenden Jungen hielten sich in der Deckung des Waldes auf, bis sie groß genug waren, um sich ins offene Land hinauszuwagen und Herdenanschluss zu suchen.
Die Herdenbildung war strategisch sinnvolclass="underline" Die Diplos boten sich durch die schiere Präsenz gegenseitig Schutz. Zumal die Herden frisches Blut brauchten, um ihren Bestand zu sichern. Und selbst wenn ein Räuber sich ein Junges holte, war es auch nicht weiter schlimm. In den endlosen Wäldern Pangäas fand sich schnell ein neues, das seinen Platz einnahm. Es war, als ob die Herde solche Verluste als Tribut hinnähme, den sie für den langen Marsch durch die urzeitlichen Wälder entrichten musste.
Und heute sah es so aus, als ob das schwache Weibchen diesen Tribut zahlen würde.
Lauscher und Stego wickelten die Diploleder-Peitschen von den Hüften ab. Mit den Peitschen und wurfbereiten Speeren krochen sie durch das Gestrüpp aus Schösslingen und Farnen, das am Waldrand wucherte. Selbst wenn die Diplos sie sahen, würden sie vielleicht nicht reagieren; die evolutionäre Alarmprogrammierung der Diplos umfasste nämlich keine Alarmsignale für die Annäherung zwei so kleiner Räuber.
Es entspann sich ein stummes Gespräch in Form subtiler Gesten, Kopfnicken und Augenkontakts.
Der da, sagte Stego.
Ja. Schwach. Jung.
Ich werde auf die Herde zulaufen. Ich werde die Peitsche schwingen. Versuche sie nervös zu machen. Den Kümmerling von ihnen zu trennen.
Einverstanden. Ich starte den Angriff…
Es wäre eigentlich Routine gewesen. Als die Ornithen sich anschlichen, stoben jedoch Coelusaurier davon, und Pterosaurier erhoben sich mit schwerem Flügelschlag in die Luft.
Stego zischte. Lauscher drehte sich um.
Und schaute einem anderen Ornithen in die Augen.
Lauscher sah, dass die Fremden zu dritt waren. Sie waren etwas größer als Lauscher und Stego. Sie waren stattliche Tiere mit einem prächtigen Kamm aus dekorativen Schuppen, der sich über den Hinterkopf und Nacken zog. Lauscher spürte, wie ihre Stacheln sich aufstellten, als der Körper einem uralten Instinkt folgte.
Doch diese Ornithen waren nackt. Sie hatten keinen Gürtel aus geflochtener Rinde um die Hüften wie Lauscher; sie hatten weder Peitschen noch Speere, und ihre langen Hände waren leer. Sie gehörten nicht zu Lauschers Jagd-Nation, aber sie waren entfernte Verwandte: wilde Ornithen, die Art mit den kleinen Gehirnen, aus denen ihre Art hervorgegangen war.
Sie riss den Mund auf und trat zischend auf die Lichtung. Geht weg! Geht hier weg!
Die wilden Ornithen gingen aber nicht weg. Sie erwiderten Lauschers Blick, rissen selbst den Mund auf und wackelten mit dem Kopf.
Lauscher verspürte einen Anflug von Angst. Vor nicht allzu langer Zeit wären solche wie diese drei bei ihrer Annäherung geflohen; die Wilden hatten bereits die Wirkung der Waffen fürchten gelernt, die ihre intelligenteren Verwandten benutzten. Doch der Hunger war stärker als die Angst. Es war wahrscheinlich schon länger her, seit diese Primitiven ein Diplo-Nest gefunden hatten, das ihre Hauptnahrungsquelle war. Und nun hofften diese raffinierten Opportunisten wohl darauf, Lauscher und Stego die Beute abzujagen.
Im Welten-Wald herrschte mittlerweile ein richtiges Gedränge.
Lauscher, die mit dieser unwillkommenen Erinnerung aus der eigenen primitiven Vergangenheit konfrontiert wurde, wusste, dass sie keine Angst zeigen durfte. Sie ging unbeirrt auf die drei wilden Ornithen zu, wobei sie mit dem Kopf wackelte und gestikulierte. Wenn ihr glaubt, ihr könntet mich um die Beute prellen, dann seid ihr auf dem Holzweg. Verschwindet von hier, ihr Tiere! Aber die Primitiven reagierten nur mit Zischen und Spucken.
Die Unruhe machte die Diplodocus nervös. Das schwächliche Weibchen hatte sich inzwischen in den Schutz der Herde geflüchtet und sich dem Zugriff der Jäger entzogen. Nun ließ die große Matriarchin selbst den Blick schweifen. Der Kopf wurde auf dem Hals geschwenkt wie eine Kameraplattform auf einem Ausleger.