Ja, uns gibt es noch, aber das Ökosystem gleicht einer riesigen Lebenserhaltungsmaschine. Es beruht nämlich auf den Interaktionen von Spezies auf allen Stufen des Lebens, von den primitivsten Pilzfäden, die Wurzeln von Pflanzen ernähren, bis hin zu den gewaltigen globalen Zyklen von Wasser, Sauerstoff und Kohlendioxid. Darwins Bild vom tropischen Ufer passt wirklich. Wie bleibt die Maschine aber stabil? Wir wissen es nicht. Was sind die wichtigsten Bauteile? Wir wissen es nicht. Wie viele vermögen wir herauszunehmen, ohne dass die Maschine versagt? Das wissen wir genau so wenig. Selbst wenn wir in der Lage wären, die Spezies zu identifizieren und zu retten, die wir für unser Überleben brauchen, wüssten wir nicht, von welchen Spezies die wiederum abhängen. Wenn wir aber so weitermachen wie bisher, dann werden wir die Grenzen unsrer Belastung bald herausfinden.
Vielleicht sehe ich das zu schwarz. Aber ich glaube schon, dass es einen großen Unterschied machen wird, ob wir durch unsere eigene Dummheit aussterben. Weil wir der Welt nämlich etwas geben, das sie in ihrer ganzen langen Geschichte noch von keinem anderen Lebewesen bekommen hat. Und das ist Intelligenz und zielgerichtetes Handeln. Wir sind in der Lage, einen Ausweg zu finden.
Also lautet meine Frage – im Vollbesitz der geistigen Kräfte –, was wir nun zu tun haben?«
Sie verstummte unsicher und blieb auf dem Kaffeetisch stehen.
Ein paar Leute nickten. Andere schauten gelangweilt.
Alison Scott war die erste, die sich erhob. Sie klappte die langen Beine grazil aus. Joan hielt den Atem an.
»Sie erzählen uns nichts Neues, Joan. Der langsame Tod der Biosphäre ist… äh… eine Banalität. Ein Klischee. Und ich muss auch darauf hinweisen, dass das, was wir getan haben, unvermeidbar war. Wir waren Tiere, wir sind Tiere und werden uns auch weiterhin wie Tiere verhalten.« Das wurde mit einem missmutigen Raunen quittiert. »Man weiß von anderen Tieren, dass sie sich selbst ausgerottet haben«, sattelte Scott noch einen drauf. »Im zwanzigsten Jahrhundert wurden Rentiere auf einer kleinen Insel im Beringmeer ausgesetzt. Eine ursprüngliche Population von neunundzwanzig schwoll in zwanzig Jahren auf sechstausend an. Ihre Nahrung bestand jedoch aus langsam wachsenden Flechten, die schneller abgegrast wurden, als sie nachzuwachsen vermochten.«
»Rentiere verstehen freilich nichts von Ökologie«, rief jemand.
»Wir haben das im Lauf der Geschichte aber auch getan«, sagte Scott ungerührt. »Das Beispiel der polynesischen Inseln ist allgemein bekannt. Und die orientalische Stadt Petra…«
Wie Joan gehofft hatte, zerfiel die Gruppe in kontrovers diskutierende Grüppchen.
»… die Schuld dieser Menschen der Vergangenheit, die unfähig waren, ihre Ressourcen zu verwalten, bestand nur in der Unfähigkeit, ein schwieriges ökologisches Problem zu lösen…«
»… Wir bewältigen bereits Energie- und Masseströme in einem Maßstab, der natürlichen Prozessen gleichkommt. Nun müssen wir diese Prozesse eben steuern…«
»… Es ist aber riskant, an die Grundlagen eines ohnehin schon überfüllten Planeten zu rühren…«
»… All diese technischen Maßnahmen würden selbst Energie kosten und würden die Erwärmung des Planeten noch verstärken…«
»… Unsre Zivilisation hat keine gemeinsame Agenda. Welche Lösung würden Sie für die politischen, rechtlichen, kulturellen und finanziellen Aspekte denn anbieten, die sich aus Ihren Vorschlägen ergeben…?«
»… Diesen technokratischen Mist höre ich schon seit Jahrzehnten! Was ist das hier, eine NASA-Kollekte?«
»… Ich sage, scheiß aufs Ökosystem. Wer braucht denn noch Frösche und Kröten? Ich plädiere für eine drastische Vereinfachung. Man müsste nur CO2 absorbieren, Sauerstoff produzieren und die Wärme regulieren. Das kann doch nicht so schwer sein.«
»… Meine Dame, wollen Sie wirklich in einer Blade Runner-Welt leben?«
Joan musste erneut um die Aufmerksamkeit der Gruppe bitten. »Wir brauchen eine gemeinsame Willensanstrengung und müssen in einem nie gekannten Maß alle Kräfte mobilisieren.
Aber vielleicht müssen wir die richtige Lösung erst noch finden.«
»Genau«, sagte Alison Scott und erhob sich wieder. Sie legte ihren beiden Töchtern die Hände auf das glänzende türkisfarbene Haar. »Engineering ist ein ausgeträumter Traum des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Lösung liegt nicht da draußen, sondern wir müssen sie in uns finden.«
Diese Äußerungen stießen auf offene Ablehnung. »… Sie meint damit, Babys zu klonen, wie ihre beiden kleinen Freaks…«
»Ich spreche von Evolution«, sagte Scott barsch. »Das geschieht nämlich mit einer Spezies, wenn ihre Umwelt sich verändert. Im Lauf unsrer Geschichte haben wir uns als eine erstaunlich anpassungsfähige Spezies erwiesen.«
Eine schwarze Frau in den Sechzigern stand auf. Joan kannte sie: Sie hieß Evelyn Smith und war eine der prominentesten Evolutionsbiologinnen ihrer Zeit. »Bei menschlichen Populationen ist schon seit ein paar Dutzend Jahrtausenden keine natürliche Auslese mehr erfolgt«, sagte sie kalt. »Anderslautende Behauptungen sind ein Beleg dafür, dass der zugrunde liegende Mechanismus nicht verstanden wurde. Wir unterdrücken nämlich die Prozesse, die die Selektion vorantreiben: Unsre Waffen haben Räuber eliminiert, der landwirtschaftliche Fortschritt hat den Hunger eingedämmt und so weiter. Aber das wird sich ändern, wenn der bevorstehende Kollaps eintritt. Und dann wird auch die Selektion wieder in Gang gesetzt. Davon handelt zufällig auch mein Vortrag im Seminar Drei.«
Das rief Protest hervor.
»… was soll das heißen, ›bevorstehender Kollaps‹?«
»… Trotz des oberflächlichen Glanzes weist unsre Gesellschaft Symptome des Niedergangs auf: zunehmende soziale Ungleichheit, abnehmender Grenzertrag des Wirtschaftswachstums, Niedergang des Bildungswesens und der geistigen Leistungen…«
»… Ja, und der Tod des Spirituellen. Selbst wir Amerikaner legen nur Lippenbekenntnisse gegenüber Werten ab – der Flagge, der Verfassung und der Demokratie. Stattdessen lassen wir es zu, dass die Konzerne Macht über unser Leben erlangen und trösten uns mit Mystizismus und esoterischem Firlefanz. Das ist aber kein einmaliger Vorgang. Die Parallelen zum alten Rom sind unübersehbar…«
»… Nur dass wir nun durch die Globalisierung weltweit in einem Boot sitzen. Falls der Zusammenbruch kommt, wird vielleicht nicht mehr viel Asche da sein, aus der wir wie Phönix wieder aufsteigen könnten…«
»… Eine absurd pessimistische Annahme – wir haben früher schon ähnliche Situationen bewältigt…«
»… Wir haben alle leicht zugänglichen Bodenschätze ausgebeutet und verheizt; falls wir abstürzen, hätten wir nichts mehr, auf dem wir wieder aufbauen könnten…«
»Worauf ich hinaus will«, sagte Smith, »ist, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«
Diese leise gesprochenen Worte brachten zunächst alle zum Schweigen, und Joan sah ihre Gelegenheit gekommen.
»Wenn wir also nicht in die alten Zeiten zurückfallen wollen, als wir nur ein Tier unter vielen in der Ökologie waren, müssen wir einen Ausweg aus diesem Schlamassel finden. Und ich glaube auch, dass es einen solchen Ausweg gibt.«
Sie strich sich abwesend über den Bauch und lächelte. »Einen neuen Weg. Und zugleich ein Weg, den wir längst kennen. Der Weg der Primaten.«
Und sie skizzierte ihre Vision.
Die menschliche Kultur, sagte Joan, sei eine Adaption gewesen, um den Menschen während der Klimakapriolen des Pleistozäns das Überleben zu ermöglichen. Doch nun führte diese Kultur durch Rückkopplung in einer epochalen Ironie zu einer noch größeren Umweltkatastrophe. Die Kultur, die einst so überaus adaptiv gewesen war, war nun maladaptiv geworden und würde sich ändern müssen.