Plötzlich war Alyce bei ihr. »Ganz ruhig. Setzen Sie sich.«
Joan sah, dass die Bilder an der Wand sich änderten. Ihr Blick war getrübt, doch schienen Orange, Schwarz und Grau nun die vorherrschenden Farben zu sein.
Alyce grinste; es war ein freudloses Grinsen wie von einem Totenschädel. Ein tolles Timing.
Elisha hatte das Mädchen an den Handgelenken gepackt und zog ihm die Arme über den Kopf.
»Kommen Sie schon, Elisha«, sagte Joan schnell. »Deshalb sind Sie doch nicht hier.«
»Wirklich nicht?«
»Wenn Sie bloß etwas zu ficken wollen«, sagte Scott grimmig, »nehmen Sie mich.«
»Danke, aber das würde nichts bringen«, sagte Elisha. »Es geht nicht um den Akt, sondern um die Symbolik, müssen Sie wissen. Dies ist nämlich das erste Mal seit der Ausrottung der Neandertaler, dass zwei unterschiedliche menschliche Spezies auf der Welt existieren.« Er starrte auf das Mädchen hinab. »Ist es überhaupt Vergewaltigung, wenn der Akt zwischen verschiedenen Spezies stattfindet?«
Plötzlich flogen die Türen aus den Angeln.
Es ertönten Schreie, Schritte und Schüsse. Schwarze Kügelchen wurden durch die offenen Türen geschleudert und zerplatzten. Weißer Rauch waberte durch die Luft.
Joan schaute auf die Terroristen und versuchte sie zu zählen. Zwei von ihnen waren gefallen, als die Türen aufgebrochen wurden. Zwei andere, die im Laufen schossen, fielen vor ihren Augen und verwandelten sich plötzlich in schlackernde Marionetten. Die meisten Kongressteilnehmer lagen auf dem Boden oder waren unter den Tischen in Deckung gegangen. Ein paar schienen verletzt zu sein: Sie sah reglose Schemen im Rauch und rote Blutlachen im grauen Zwielicht.
Eine neue Schmerzwelle lief durch Joans Unterleib.
Elisha stand auf einmal vor ihr. Er lächelte. Er hielt eine schwarze Schnur in der Hand, die von seinem Gürtel herabbaumelte.
Er hatte Bex schließlich doch losgelassen; das Mädchen hatte sich in die Arme seiner Mutter geflüchtet und lief weg.
»Elisha. Sie müssen nicht sterben.«
Sein Lächeln wurde breiter. »Auf dem ganzen Planeten werden fünfhundert von uns die gleiche Aktion durchführen.«
Alyce streckte halb die Hand nach ihm aus. »Tun Sie das nicht, um Gottes willen…«
»Ihnen wird nichts geschehen«, sagte er. Er zog sich wieder die Kapuze über den Kopf. »Ich werde sterben, wie ich gelebt habe. Gesichtslos.«
»Elisha!«, schrie Joan.
Er zog an der Schnur, als ob er einen Rasenmäher startete. Ein Blitz zuckte an seiner Hüfte auf, und ein Gürtel aus Licht legte sich streiflichtartig um ihn. Dann löste die obere Hälfte seines Körpers sich von der unteren. Als er in der Mitte getrennt wurde, stieg ein stechender Gestank nach verbranntem Fleisch und Kot auf.
Alyce klammerte sich an Joan. »O Gott, o Gott.«
Der Rauch verdichtete sich und nahm ihnen die Sicht. John hustete wie ein Kettenraucher. Der Schmerz überkam sie erneut und schoss durch Unterleib und Rücken. Sie hielt sich an Alyce fest. »Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, wie maladaptiv kollektiver Selbstmord ist?«
»Um Gottes willen, Joan…«
»Ich meine, für den Selbstmord einer Einzelperson kann es aus biologischer Sicht manchmal eine Rechtfertigung geben. Vielleicht werden ihre Angehörigen durch Selbstmord von einer Last befreit. Aber welchen biologischen Sinn hätte ein Gruppenselbstmord? Die Fähigkeit, an kulturelle Diktate zu glauben, ist adaptiv. Das muss so sein, oder wir würden sie gar nicht erst haben. Doch manchmal läuft der Mechanismus aus dem Ruder…«
»Wir sind verrückt. Ist es das, was Sie sagen wollen? Dass wir alle verrückt sind. Da stimme ich Ihnen zu.«
»Ma’am, bitte kommen Sie mit mir.« Ein Schemen erschien vor ihr. Er sah aus wie ein Soldat in einem Raumanzug, der nach ihr griff.
Erneut schoss Schmerz durch sie und löschte das klare Denkvermögen aus. Sie fiel gegen Alyce Sigurdardottir. Sie hörte eine weitere Explosion. Sie glaubte, sie käme von der Militäroder Polizeiaktion.
Aber sie irrte sich. Das war Rabaul gewesen.
Als das Meer in die Magmakammer eingedrungen war, wurde die Explosion unvermeidlich.
Magmabrocken wurden schneller als der Schall in die Luft geschleudert und erreichten eine Höhe von bis zu fünfzig Kilometern. Dort zerbrachen sie beim Erstarren in Fragmente, die von winzigen Aschepartikeln bis zu Brocken mit einem Durchmesser von einem Meter reichten. Durchsetzt wurde dieses Gemisch von Trümmerstücken des zerstörten Bergs. Diese Felsbrocken waren weit über die Troposphäre hinaus geschleudert worden, weit über die Gipfelhöhe von Flugzeugen und Ballons und sogar über die Ozonschicht hinaus. Die Bruchstücke von Rabaul vermengten sich mit Meteoriten und verglühten. Es war ein Himmel voller Steine.
Und auf der Erde breitete die Schockwelle sich mit doppelter Schallgeschwindigkeit von der zerstörten Caldera aus. Man hörte sie erst, als sie schon da war, und sie machte alles auf ihrem Weg dem Erdboden gleich: Häuser, Tempel, Bäume und Brücken. Auf ihrem Durchgang gab sie Energie an die Luft ab, verdichtete sie und heizte sie auf zu enormen Temperaturen. Alles Brennbare ging in Flammen auf.
Die Menschen sahen die Schockwelle kommen, aber sie vermochten sie nicht zu hören und schon gar nicht vor ihr zu fliehen. Sie verbrannten einfach wie ein vom Blitz getroffener Baum. Und das war erst der Anfang.
Soldaten in Monturen wie Raumanzügen trugen Joan aus der raucherfüllten Bar und aus dem Hotel ins Freie. Man legte sie auf eine Trage und beförderte sie im Laufschritt zum Parkplatz. Um sie herum herrschte hektische Betriebsamkeit: Menschen rannten umher, Fahrzeuge rasten übers Flugfeld und Helikopter ratterten in einem orangefarbenen Himmel.
Dann verfrachtete man sie in einen Kleinbus. Ein Krankenwagen? Eins, zwei, drei, hoch. Die Trage rutschte in den Innenraum des Fahrzeugs neben eine Art schmaler Koje. Die Wände waren mit einer unbekannten Ausrüstung gesäumt, die aber nicht piepte und summte, wie sie es aus den Krankenhaus-Seifenopern kannte, die sie früher so gern gesehen hatte.
Sie wedelte mit der Hand. »Alyce.«
Alyce nahm ihre Hand. »Ich bin hier, Joan.«
»Ich fühle mich wie eine Amphibie, Alyce. Ich schwimme in Blut und Urin, aber ich atme die Luft der menschlichen Kultur. Weder Fleisch noch Fisch…«
Alyces eingefallenes Gesicht erschien über ihr. Sie wirkte abwesend und ängstlich zugleich. »Was? Was haben Sie gesagt?«
»Wie spät ist es?«
»Joan, sparen Sie Ihren Atem. Sie werden ihn noch brauchen; ich spreche aus Erfahrung.«
»Ist es Tag oder Nacht? Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Anhand des Himmels vermag ich es auch nicht zu sagen.«
»Meine Uhr ist kaputt. Nacht, glaube ich.«
Jemand machte sich an ihren Beinen zu schaffen – schnitt die Kleidung auf? Der Krankenwagen setzte sich in Bewegung, und sie hörte das entfernte Wimmern einer Sirene wie das Heulen eines im Nebel verlorenen Tiers. Alles, was sie sah, war das dunkel lackierte, nackte Blechdach des Fahrzeugs, diese bedeutungslosen Ausrüstungsgegenstände und Alyces schmales Gesicht.
»Hören Sie, Alyce.«
»Ich bin hier.«
»Ich habe Ihnen noch gar nicht die wahre Geschichte meiner Familie erzählt.«
»Joan…«
»Falls ich das hier nicht überlebe«, sagte sie scharf, »erzählen Sie meiner Tochter, woher sie kam.«
Alyce nickte verstehend. »Sie sind als Sklaven nach Amerika gekommen.«
»Mein Urgroßvater hat die Geschichte rekonstruiert. Wir stammten aus dem heutigen Namibia, aus der Gegend von Windhuk. Wir waren San, die so genannten ›Buschmänner‹. Wir wären fast von den Bantu ausgerottet worden, und in der Kolonialzeit wurden wir wie Ungeziefer getötet. Aber wir bewahrten uns dennoch einen Teil unserer kulturellen Identität.«