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»Joan…«

»Alyce, aus Genfrequenz-Untersuchungen geht hervor, dass der weibliche DNA-Strang der San-Frauen viel stärker differenziert ist als überall sonst bei Frauen auf der Erde. Daraus folgt, dass die San-Gene schon viel länger im südlichen Afrika vorkommen als alle anderen Gene sonst wo auf der Erde. Die Leute der San-Ahnenreihe sind diejenigen, die der direkten Abstammungslinie von unserer gemeinsamen Urmutter, der mitochondrischen Eva, am nächsten stehen.«

Alyce nickte. »Ich verstehe. Dann ist Ihr Kind also einer der jüngsten Menschen auf dem Planeten und zugleich der älteste.« Alyce nahm ihre Hand. »Ich verspreche, dass ich es ihr sagen werde.«

Der Schmerz kam nun in Wellen. Sie hatte das Gefühl, als ob das Bewusstsein sich auflöste, und sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. »Wissen Sie, statistisch gesehen finden menschliche Geburten in der Regel nachts statt. Ein uraltes Primaten-Merkmal, als Kinder noch in der Sicherheit eines Baumkronen-Nests geboren wurden oder wenigstens im Schutz der Dunkelheit.«

»Joan…«

»Lassen Sie mich reden, verdammt. Reden lindert den Schmerz.«

»Medikamente lindern den Schmerz.«

»Au! Jetzt geht’s aber los. Ist eine Hebamme in dieser verdammten Karre?«

»Das sind alles ausgebildete Rettungssanitäter. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

»Ich glaube, meine Tochter will unbedingt einen Blick in diesen Krankenwagen werfen.«

»Sie wissen, wie es gemacht wird. Atmen. Pressen.«

Sie atmete und schnaufte stoßweise.

Alyce behielt den Schauplatz des Geschehens im Auge. »Sie machen das gut.«

»Selbst wenn ich das Becken einer Pithecinen habe.«

»Sie sind wirklich eine Ulknudel, Joan Useb.«

»Jetzt nicht mehr.«

»Sie kommt. Sie kommt.«

Die Schädelknochen des Babys waren weich, und so vermochte sich der große Homo Sapiens-Schädel unter dem Druck, mit dem er durch den Geburtskanal gepresst wurde, zu verformen. Und es vermochte bis zum Moment der Geburt ohne Sauerstoff auszukommen. Diese letzten Momente waren die extremste körperliche Umwandlung, die es bis zum Augenblick des Todes selbst erfahren würde. Jedoch wurde der Körper des Babys mit Opiaten und Analgetika geflutet. Es verspürte keinen Schmerz, nur die Fortsetzung des langen Gebärmutter-Traums, aus dem sich sein Selbst, seine Identität allmählich herauskristallisiert hatte.

Ein mit einem Raumanzug bekleideter Sanitäter nahm Joans Kind, blies ihm in die Nase und gab ihm einen Klaps auf den Rücken. Ein kräftiges Schreien erfüllte den Krankenwagen. Das feuchte kleine Würmchen wurde schnell in eine Decke gewickelt und Joan übergeben.

Die erschöpfte Joan berührte staunend die Wange ihrer Tochter. Das Kind drehte den Kopf und machte saugende Mundbewegungen.

Alyce lächelte. Sie war selbst verschwitzt und erschöpft wie eine stolze Tante. »Bei Gott, sehen Sie nur – auf ihre Art und Weise kommuniziert sie schon mit uns. Sie ist schon ein richtiger Mensch.«

»Ich glaube, sie will nuckeln. Aber ich habe noch keine Milch, oder?«

»Legen Sie sie trotzdem an die Brust«, riet Alyce ihr. »Dadurch wird die Bildung von Oxytocin angeregt.«

Nun erinnerte Joan sich wieder an die Kurse für werdende Mütter. »Wodurch der Uterus sich zusammenzieht, die Blutung verringert und das Ausstoßen der Plazenta unterstützt wird.«

»Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, sagte ein Raumanzug. »Wir haben Ihnen schon eine Spritze gegeben.«

Joan legte das Kind an die Brust. »Schauen Sie nur. Sie macht schon Greifbewegungen. Und es ist, als ob sie Schritte macht. Ich spüre ihre Füße.«

»Wenn Sie eine behaarte Brust hätten, würde sie sich wahrscheinlich daran festhalten und auf Ihnen umher kriechen. Und wenn Sie eine ruckartige Bewegung machten, würde sie umso fester zupacken.«

»Für den Fall, dass ich durch den Wald rennte… Schauen Sie, sie beruhigt sich.«

»Warten Sie noch zwanzig Minuten, und sie wird Ihnen die Zunge rausstrecken.«

Joan hatte das Gefühl zu schweben, als ob nichts mehr real wäre außer dem verletzlichen warmen Bündel in ihren Armen. »Ich weiß, dass das alles angeboren ist. Ich weiß, dass ich umprogrammiert wurde, damit ich diesen feuchten kleinen Parasiten nicht abschüttle. Und doch…«

Alyce legte Joan die Hand auf die Schulter. »Und doch hat Ihr ganzes Leben sich darum gedreht, nur dass Sie es nicht gewusst haben.«

»Ja.«

Ein Piepen ertönte. Alyce zog ein Mobiltelefon aus der Tasche. Auf dem Display erschienen helle Bilder und schemenhafte Bewegung.

»Wir haben das Krankenhaus gleich erreicht«, sagte ein Raumanzug zu Joan. »Sie brauchen keine Angst zu haben. Es gibt dort einen sicheren, geschützten Eingang.«

Joan wiegte das Baby. »Dann ist Lucy gerade durch einen langen dunklen Tunnel gegangen, nur um gleich wieder den nächsten zu betreten.«

Der Raumanzug hielt inne. »Lucy?«

»Welcher Name wäre passender für ein Primaten-Mädchen?«

Alyce rang sich ein Lächeln ab. »Joan, Sie sind nicht die einzige neue Mutter.«

»Wie?«

»Ian Maughans Robot-Arbeiter auf dem Mars ist es gelungen, eine voll funktionsfähige Kopie von sich selbst zu bauen… Er hat es geschafft, sich zu reproduzieren. Dem Tenor des Texts nach zu urteilen ist er sehr glücklich.«

»Er hat Ihnen das getextet?«

»Sie wissen doch, wie diese Leute sind. Der Rest der Welt kann zum Teufel gehen, solang ihre neusten Gimmicks nur planmäßig funktionieren… Oh. Die Viert-Weltler haben Alison Scotts Schimäre getötet. Ich kann mir vorstellen, dass sie sie für eine Entartung gehalten haben. Aber ich frage mich, wofür sie sich gehalten hat.«

»Ich glaube, sie wollte nur Sicherheit, wie wir alle.«

Joan schaute auf ihr Baby. Vor ein paar Herzschlägen war eine neue Welt entstanden – während eine andere unterging.

»Wir waren dicht dran, oder, Alyce? Die Konferenz und das Manifest. Es hätte funktionieren können, nicht wahr?«

»Ja, das glaube ich auch.«

»Wir hatten nur zuwenig Zeit, das war alles.«

»Ja. Und wir hatten obendrein Pech. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, Joan.«

»Nein. Die dürfen wir nie aufgeben.«

Der Krankenwagen hielt an. Die Türen wurden aufgerissen und kühle Luft strömte herein. Noch mehr Raumanzüge erschienen, schoben Alyce beiseite und legten Joan auf eine Trage. Sie wollten ihr das Baby abnehmen, aber sie gab es nicht her.

Die Geologen hatten schon lange gewusst, dass die Erde für einen großen Vulkanausbruch überfällig war.

Der Ausbruch von Rabaul im Jahr 2031 war nicht die stärkste bekannte Eruption und nicht einmal die schlimmste seit dem Beginn der Aufzeichnungen. Dennoch war Rabaul viel stärker gewesen als der Ausbruch des Pinatubo auf den Philippinen im Jahr 1991, wodurch die Erde sich um ein halbes Grad abgekühlt hatte. Er war auch schlimmer als die Explosion des Tambora in Indonesien im Jahr 1815, das in Amerika und Europa als das ›Jahr ohne Sommer‹ gegolten hatte. Rabaul war das größte vulkanische Ereignis seit dem sechsten Jahrhundert nach Christi und eins der größten der letzten fünfzigtausend Jahre. Rabaul war respektabel.

Klimaänderungen verliefen nicht immer gleitend und verhielten sich auch nicht immer proportional zur Ursache. Die Erde neigte zu plötzlichen und drastischen Änderungen des Klimas und der Ökologie und zum abrupten Wechsel von einem stabilen Zustand in den anderen, sodass selbst kleine Störungen unter Umständen gravierende Auswirkungen hatten.

Rabaul war eine solche Störung. Und es sollte keine kleine Störung werden.

Es war allerdings nicht Rabauls Schuld. Der Vulkan brachte das Fass nur zum Überlaufen. Durch das enorme Bevölkerungswachstum waren alle Ökosysteme ohnehin schon bis zur Bruchgrenze beansprucht. Es war nicht einmal Pech. Wenn es nicht Rabaul gewesen wäre, dann eben ein anderer Vulkan, ein Erdbeben, ein Asteroid oder sonst etwas.