Ein kleines, rattenartiges Geschöpf huschte an Snowy vorbei. Die Füßchen patschten auf dem mürben Asphalt, und dann verschwand es im grünen Dickicht jenseits des Platzes. Es sah aus wie eine Maus. Und auf seiner Spur sah Snowy die Silhouette eines Hasen, der sich blitzartig umdrehte und davon hoppelte.
»Mäuse und Hasen«, sagt er zu Sidewise. »Ich glaubte, wir würden Katzen und Hunde sehen.«
Sidewise zuckte die Achseln; er hatte ein verschwitztes und schmutziges Gesicht. »Die Menschen sind verschwunden, nicht wahr? Die Zivilisation ist zusammengebrochen. Katzen und Hunde waren verweichlicht und domestiziert, denn die genetischen Variationen waren aus ihnen herausgezüchtet worden. Sie hätten ohne uns nicht lang zu überleben vermocht.«
»Ich hätte aber schon geglaubt, dass gerade die Katzen überleben würden. Sogar Katzenkinder gehen doch schon auf die Jagd.«
»Wildkatzen waren perfekte Tötungsmaschinen. Aber die Hauskatzen hatten kleinere Zähne, Kiefer und Gehirne als ihre wilden Vorfahren, weil alte Damen sie so putzig fanden.« Sidewise zwinkerte. »Ich hatte immer gewusst, dass die Katzen uns nur etwas vormachten. Sie waren gar nicht so zäh. Nur frech.«
»Wo sind eigentlich die Autos?«, fragte Moon. »Ich meine, ich sehe die Gebäude beziehungsweise das, was von ihnen noch übrig ist. Aber wo sind die Autos geblieben?«
»Wenn du im Grünzeug gräbst, wirst du vielleicht noch ein paar rostige Metallteile oder Kunststoffsplitter finden.« Sidewise schaute Ahmed finster an. »Willst du mir schon wieder vorwerfen, dass ich die Moral untergrabe? Ich weise nur auf etwas hin, das selbst ein Blinder mit einem Krückstock sieht.«
»Damit können wir uns auch später noch befassen«, sagte Ahmed mit einer Ruhe, die Snowy imponierte. »Was wir nun zu tun haben, ist auch offensichtlich.«
Snowy nickte. »Wir müssen einen Unterschlupf finden.«
Bonner stieg auf einen flachen Hügel, der vielleicht einmal eine Mauer gewesen war und wies gen Westen. »Diese Richtung. Ich sehe Mauern. Ich meine, stehende Mauern. Etwas, das noch halbwegs intakt aussieht.«
Mit einem irrationalen Funken Hoffnung schaute Snowy in die angegebene Richtung. Er sah, dass es sich um eine Kirche handelte. Eine mittelalterliche Kirche. Er erkannte die hohen, schmalen Fenster und das Tor. Aber das Tor und das Dach waren längst verschwunden, sodass das offene Gebäude den Elementen ausgesetzt war. Er spürte Enttäuschung – und zugleich einen Anflug von Bewunderung.
Sidewise schien seine Gedanken zu erraten. »Wenn man schon baut, dann sollte man aus Steinen bauen.«
»Was glaubst du, wo wir sind? England, Frankreich?«
Sidewise zuckte die Achseln. »Ich kenne mich mit Kirchen nicht so aus.«
Ahmed hob seinen Rucksack auf. »In Ordnung. Das Dach fehlt, also werden wir uns behelfen müssen. Bonner, Snowy, ihr kommt mit mir – wir suchen Holz. Und wir werden ein Feuer machen müssen. Moon, Sidewise, darum kümmert ihr euch.« Er ließ den Blick über ihre Gesichter schweifen, die wie Münzen in der Dämmerung schimmerten. Dies wäre das erste Mal seit dem Aufwachen, dass sie sich aus den Augen verloren, und selbst Snowy verspürte einen Anflug von Unsicherheit. »Geht aber nicht so weit«, sagte Ahmed. »Außer uns ist niemand hier, sodass wir auch von niemandem Hilfe erwarten können. Falls doch etwas passiert – irgendetwas –, ruft oder gebt einen Schuss ab, und dann kommen die anderen zu Hilfe. In Ordnung?«
Sie nickten und murmelten etwas vor sich hin. Und dann verschwanden sie in der Dunkelheit, um ihre Aufträge auszuführen.
Das Innere der Kirche war auch ein grünes Biotop. An einem Ende war ein Hügel, bei dem es sich vielleicht um den Altar gehandelt hatte, aber es gab keine Spur von Kirchenbänken oder Kruzifixen, Gebetsbüchern oder Kerzen. An Stelle des Dachs klaffte eine große Lücke; kein Stück war mehr von der hölzernen Konstruktion übrig, die einst diese massiven Wände überspannt haben musste.
Sie errichteten Unterstände, bauten Lager aus Zweigen und deckten sich mit Blättern ab. Angenehm würde diese Nacht nicht werden, aber auch nicht so schlimm wie das Überlebenstraining, das sie alle absolviert hatten.
Sie verpflegten sich aus den Rationspäckchen und mampften getrocknete Bananen und Dosenfleisch. Die Früchte des Waldes verschmähten sie. Da spielte auch ein wenig Aberglaube mit hinein, sagte Snowy sich, indem sie so lang wie möglich an den Relikten der Vergangenheit festhalten wollten, bevor sie sich dieser neuen Gegenwart aussetzten. Aber es war schon richtig, es langsam angehen zu lassen. Dass Ahmed sie gewähren ließ, bewies seine psychologische Kompetenz. Langfristig würden sie sich sowieso umstellen müssen.
Sie waren alle recht erschöpft nach dem langen Marsch, den sie gleich nach dem Verlassen der Grube absolviert hatten. Snowy fragte sich, wie sie sich bewährt hätten, wenn sie wirklich hätten kämpfen müssen; vielleicht hätte diese Strategie überhaupt nicht so funktioniert, wie die Planer es sich vorgestellt hatten. Und allen machten die Füße zu schaffen – sie waren mit Blasen übersät und schmerzten. Das lag daran, dass sie keine Strümpfe trugen. Snowy befürchtete, dass sie ihre beschränkten Vorräte an Salben zu schnell aufbrauchen würden. Morgen würden sie sich etwas einfallen lassen müssen.
Aber es war dennoch tröstlich, sich in diesen Überresten menschlicher Architektur einzurichten, als ob sie sich noch immer im Schoss der Zivilisation befänden, aus dem sie hervor gekrochen waren. Trotzdem würde das Feuer die ganze Nacht brennen müssen.
Zu seiner Erleichterung war Snowy zu müde, um sich noch großartig den Kopf zu zerbrechen. Trotzdem vermochte er nicht einzuschlafen.
Er rollte sich unruhig auf den Rücken. Die Nacht war warm – zu verdammt warm für einen englischen Frühling; vielleicht hatte das Klima sich geändert, und der Treibhauseffekt war außer Kontrolle geraten. Der Himmel, der von den Umfassungsmauern eingerahmt wurde, war mit Sternen übersät, die hier und da von Wolken verhüllt wurden. Die Mondsichel war zu schmal, um die Sterne auszublenden; das gütige Antlitz des Monds, das über seine Kindheit gewacht hatte, schien unverändert. Er hatte sich bei den Übungen in der Wüste zu Orientierungszwecken etwas mit Astronomie befasst. Er ordnete die Sternbilder zu. Da war Kassiopeia, nur dass die vertraute W-Form nun um einen sechsten Stern erweitert worden war. Ein heißer junger Stern, der vielleicht geboren worden war, nachdem er in die Grube gefahren war. Was für eine seltsame Vorstellung.
»Ich sehe den Mars nicht«, flüsterte Sidewise in der Dunkelheit.
Snowy erschrak; er hatte geglaubt, dass Sidewise schon schlafen würde. »Was?«
Sidewise wies gen Himmel, wobei sein Arm als Silhouette sich abzeichnete. »Venus. Jupiter. Saturn, glaube ich. Wo ist aber der Mars?«
»Vielleicht ist er schon untergegangen.«
»Vielleicht. Vielleicht ist aber auch etwas anderes mit ihm passiert.«
»Erzähl nicht so einen Scheiß, Side.«
Sidewise erwiderte nichts darauf.
»Ich habe einmal römische Ruinen gesehen«, flüsterte Snowy. »Den Hadrian-Wall. Der sah genauso aus. Alles war überwuchert, und selbst der Mörtel war verrottet.«
»Das war aber ein ganz anderer Maßstab«, murmelte Sidewise. »Selbst aus der Perspektive Roms. Wir hingegen hatten eine globale Zivilisation, eine überfüllte Welt. Alles war vernetzt.«
»Was, glaubst du, ist geschehen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht dieser verdammte Vulkan. Eine Hungersnot. Oder eine Seuche. Überall Flüchtlinge. Und dann Krieg, vermute ich. Ich bin froh, dass ich das nicht erlebt habe.«
»Maul halten, ihr beiden«, murmelte Ahmed.